„Vielleicht bin ich ein Feigling, aber ich kann das auch nicht aushalten. Wenn ich dich bloß nicht so verdammt liebhätte.“
„Danke, Kjell, das werd’ ich nie vergessen.“
Als sie in der warmen Küche steht, den fertig gedeckten Tisch sieht, Weihnachtsgerichte, Preßpökelfleisch, Biskuitkuchen, in der Mitte den Adventskranz, die Mutter, die heiß und froh im Kochtopf mit Kakao rührt, da begreift sie, was sie tun, sie und Kjell. Was sie sich selber antun, ihren Eltern, die sich auf sie verlassen, und ihre Schuldgefühle überwältigen sie. Sie läßt sich auf einen Stuhl neben dem Tisch fallen, verbirgt ihr Gesicht in den Händen und weint vor den Augen ihrer Mutter wie ein kleines Kind. Ihre Mutter läßt alles stehen und liegen, beugt sich über sie, streichelt ihre Haare.
„Aber Lenachen, was ist denn los mit dir, Kind?“ fragt sie, und Lena hört die Angst in ihrer Stimme, hört auch, wovor die Mutter sich fürchtet.
Stein sieht sie verlegen an und geht hinaus.
Sie schlingt ihre Arme um die Taille der Mutter, weint gegen den warmen, runden Bauch. Weint Angst, Unsicherheit, alles, was wehgetan hat, aus sich heraus, wortlos weint sie unter den ängstlichen Händen, die ihre Haare streicheln.
„Aber, aber, erzähl doch deiner Mutter, was so schrecklich ist!“ Die Stimme der Mutter tut ihr weh.
„Nein, ich bin bloß dumm. Ich hab’ so schreckliches Heimweh gehabt, verstehst du. In der Schule ist alles so schwer, wenn du nur wüßtest! Ich hab’ solche Angst, daß ich das nicht schaffe. Mir graust so davor, wieder hinzumüssen.“
„Und das ist alles, Lena?“
„Alles? Ja, ist das denn nicht genug, meinst du?“
„Wirklich nur das?“ wiederholt die Mutter froh und kann ihre Erleichterung nicht verbergen. Sie nimmt Lenas Gesicht in ihre Hände. „So, jetzt wischen wir die Tränen ab, dann laß dich ansehen. Arme Kleine, mußt mit allem allein fertigwerden.“
Beim Abendessen müssen Lena und Stein ihre Zeugnisse zeigen.
„Hm. Gar nicht so schlecht“, meint der Vater.
„Und da hat unsere Kleine solche Angst, daß sie es nicht schafft“, lacht die Mutter. Quer über den Tisch begegnet Lena Steins Blick und errötet. Sie kaut und kaut und das gute Essen bleibt ihr im Hals stecken.
„Ach, das hat gut geschmeckt, Mutter“, sagt sie und möchte sich nur noch im Bett verkriechen, ihr Schuldgefühl wegschlafen, ihr schlechtes Gewissen, aber an diesem ersten Abend gibt es kein Entrinnen.
Die Mutter deckt im Wohnzimmer den Kaffeetisch, der Weihnachtskuchen wird aufgetragen, Schüsseln mit weihnachtlichem Naschwerk, warm und aufgeregt läuft sie um alle herum, aber Lena betrachtet ihre Mutter und begreift plötzlich, versteht, was es bedeutet, ihre Mutter zu sein. Sie rackert sich im Laden, mit den Tieren und dem Haus ab. Alles Geld, das sie entbehren kann, bekommen Lena und Stein. Geir, der Älteste, arbeitet in einer Bank im Norden. Er ist verheiratet und hat gerade einen Sohn bekommen. Bjørn studiert in Trondheim. Er feiert mit seiner Verlobten bei ihrer Familie in Oslo Weihnachten. Stein will Zahnarzt werden. Niemand wird den Laden übernehmen, wenn die Eltern sich zur Ruhe setzen. Der Vater setzt sich für die Abendnachrichten ans Radio. Er nickt im Sessel ein, und Lena findet, daß ihre Eltern in diesem halben Jahr viel älter geworden sind. Sie spürt, wie sehr sie sie liebt, daß sie sie niemals enttäuschen darf. Als der Vater schlafen gegangen ist, bleibt sie bei ihrer Mutter sitzen.
„Lena“, sagt die Mutter. „Du bist so erwachsen geworden. Das ist seltsam, weißt du das? Seltsam, daß ich hier sitze und mit dir rede wie mit einem erwachsenen Menschen. Und ich bin froh, daß du nicht hier im Dorf bleiben mußt, daß du eine Zukunft hast. Froh, daß es dir nicht so ergangen ist wie Liv.“
„Was ist los mit Liv?“
„Hab’ ich dir das nicht geschrieben? Sie heiratet jetzt zu Weihnachten. Du bist zur Hochzeit eingeladen, Lena.“
Lena blickt ihre Mutter sprachlos an. „Liv heiratet? Aber sie ist doch nicht älter als ich!“
„Ist sie nicht, nein. Neulich 17 geworden. Aber es ist ihr schon anzusehen, ... armes Kind.“
„Ist das von Erling?“
„Ja.“
„Aber ich hab’ nicht gedacht, daß es so ernst mit ihnen wäre. Er ist doch alt, Mutter.“
„Na, ein Greis ist er schließlich noch nicht“, lächelt die Mutter. „Fünf-, sechsundzwanzig, würde ich meinen.“
„Aber Liv ...?“
„Ja, Lena, so geht das eben. Sie ist jetzt wohl über das Schlimmste hinweg, über den Klatsch und das Ganze. Sie hat einen Ring am Finger. Dann regen sie sich ab, weißt du, aber die haben vielleicht getratscht!“
„Arme Liv!“
„Ich sag’ ja immer, wenn die Leute reden, daß es den besten Mädchen so geht. Denen, die nicht wissen, wie sie auf sich aufpassen sollen. Die haben dann Pech. Die anderen, die von einem zum andern flattern, die schon als Kinder wie verheiratete Leute leben, die kommen zurecht, und ein braves Mädchen wie Liv sitzt dann da mit ihrem Unglück.“
Lena kann ihrer Mutter nicht in die Augen blicken. Liv, ihre beste Freundin aus der Schulzeit, die kluge, tüchtige Liv. Sie war besser in der Schule als Lena. Danach hat sie ihren Eltern auf dem Hof geholfen. Lena hatte versprochen, ihr zu schreiben, aber daraus ist nichts geworden. Und jetzt wird Liv heiraten, bekommt ein Kind.
„Wovon sollen sie denn leben?“
„Ja, das kannst du fragen! Erling ist ja zu Hause, übernimmt irgendwann den Hof, aber das dauert noch lange. Seine Geschwister gehen noch zur Volksschule, weißt du. Und Liv zieht wohl zu ihm. Ab und zu kann er beim Straßenbau arbeiten. Für sie wird das keine große Veränderung, einfach nur ein Umzug. Diesselbe Plackerei da, wo sie herkommt, wie da, wo sie hinzieht.“ Sie sieht Lena an. „Wie ist das, du hast doch wohl keinen Freund?“
Lena blickt zu Boden, spürt wieder das peinliche Erröten. „Nein, das nicht gerade, aber ich bin ein bißchen mit Kjell zusammen.“
Die Mutter strahlt. „Ach, mit Kjell? Da bin ich aber froh, Lena. Dann brauch’ ich mir um dich keine Sorgen zu machen. Kjell ist doch hier in all den Jahren ein und aus gegangen. Der ist ein guter Junge. Und ihr habt sicher zwischendurch auch viel Spaß, du und Kjell und Stein? Das ist gut, Lena, daß du dich an deine Kameraden hältst.“
Nach einigen Tagen zu Hause scheinen Lena die Schule und ihr Leben im möblierten Zimmer unwirklich. Sie hilft im Laden, schläft in ihrem eigenen Bett, das ist gut, das ist sicher, und sie wünscht, die Ferien nähmen nie ein Ende.
Am Weihnachtsmorgen bringt der Vater allen Kaffee ans Bett. „Gesegnete Weihnachten!“
Das macht er schon, so lange sie sich erinnern kann, jedes Jahr am Weihnachtstag.
Sie lacht, als sie das Tablett mit Weihnachtsplätzchen und Milch sieht. „Meinst du immer noch, Kaffee wäre zu stark für mich, Vater?“
Er sieht sie verwundert an. „Trinkst du Kaffee? Den kannst du doch kriegen, das ist klar!“ Er sieht sie eine Weile an. Dann fährt er ihr rasch mit dem Handrücken über die Wange.
„Bist du denn so groß geworden, Lena?“ fragt er leise, und seine Stimme klingt rauh und seltsam.
Nach dieser Liebkosung spürt Lena einen warmen Klumpen in ihrer Brust. Ihr Vater ist so wortkarg; streng und ernst kann er wirken.
Sie kann sich nicht erinnern, ob er sie je in den Arm genommen hat, aber an diese seltsame Liebkosung erinnert sie sich. An den rauhen Handrücken, der rasch über ihre Wange fuhr, zaghaft im Dunkeln, nachdem sie ins Bett gegangen war, wenn er glaubte, sie schliefe schon.
Und der Klumpen wächst und steckt nun in ihrem Hals. Wie komisch sie geworden ist. Bald kann sie nichts mehr vertragen, ohne vom Weinen überwältigt zu werden.
Als er die Kaffeetasse auf ihren Nachttisch setzt, beugt sie sich vor, umarmt ihn schnell, spürt, wie er vor Verlegenheit erstarrt.
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