„Gewiss.“
„Die Versammlung war ziemlich erregt?“
Jarl sah den Fragenden erstaunt an. „Sie war in der Tat erregt. Aber darf ich fragen, Mr. Jenkins: woher wissen Sie das?“
Die beiden traten eben in das behagliche Wohnzimmer ein. Ein paar mächtige Lärchenbäume grünten, friedlichen Schatten spendend, vor den hoben, blinkenden Fenstern. Drüben von den sanft anschwellenden Wiesen leuchteten Löwenzahn und Königskerze. Ein goldenes Ringelspiel von Sonnenlicht zitterte im Reflex der Blätter auf dem braunlackierten Fussboden. In der Luft stand der appetitliche Duft von frischem Kaffee und warmem weissen Gebäck.
Jarl wies auf einen der Polstersessel. Der Detektiv nickte dankend und blieb stehen. „Sie fragen, Herr Doktor, woher ich von den stürmischen Debatten weiss. Nun — es ist nichts dabei, wenn ich es Ihnen sage: Ihr Herr Schwiegervater war gestern abend nocy bei mir im Hotel.“
Doktor Jarl machte eine hilflose Handbewegung und sah den Sprechenden mit unverändert erstauntem Gesicht an. „Das erklärt nicht das geringste, Mr. Jenkins“, sagte er. Wieder klang jener fühle hochmütige Ton in seiner Stimme auf. „Sie sagen, mein Schwiegervater hätte Sie gestern besucht. Nun, woher weiss denn mein Schwiegervater von dem stürmischen Verlauf der gestrigen Versammlung? Er war ja gar nicht da.“
Der Amerikaner wandte den Kopf in überrascht zu dem Sprechenden: „Herr Waggeryd war nicht auf der Versammlung?“ wiederholte er. „Dann hätte er mir die Unwahrheit gesagt. Ich nehme doch an, dass er mit Ihnen zusammen nach Christiania gefahren ist zu dem ausgesprochenen Zwecke, die Versammlung zu besuchen?“
„Gewiss. Um so erstaunter waren wir, als er nicht kam.“
„Unternahmen Sie irgend etwas . . . versuchten Sie, ihn zu holen?“
„Gewiss. Die Versammlung war im Kunstverein in der Universitäts-Gade. Nachdem wir etwa eine Stunde gewartet hatten, ging ich ans Telephon und rief meinen Schwiegervater an: im Hotel Nobel. Da hörte ich, dass er das Hotel schon vor längerer Zeit verlassen hatte, und zwar in einer Autodroschke. Er hätte also längst bei uns sein müssen; dass er nicht kam, konnte nur eine einzige Erklärung haben: ihm musste irgendeine andere wichtige Angelegenheit dazwischengekommen sein. Und doch — so konnte es auch nicht sein. Ich hörte nämlich von dem Telephonisten des Hotels etwas, was mich in Erstaunen setzte: mein Schwiegervater war im Frack, als er das Hotel verliess.“
„Das stimmt“, nickte der Detektiv. „Ich kann es bezeugen.“
„Er muss also den Frack eigens mit nach Christiania genommen haben, muss also schon in Sollihögda eine ganz bestimmte Absicht mit seiner Christianiaer Reise verbunden haben, von der er mir nichts gesagt hat, und die auch mit der Steinbruchsbesitzerkonferenz nichts zu tun hatte.“
Ein leichter Schritt kam über den Korridor. Es klopfte. Herein trat eine junge dunkelblonde Dame.
„Meine Frau“, sagte Brinjulf Jarl, „und dies ist Mr. Jenkins.“
Auf den schönen jungen Gesicht lag ein Ausdruck der Niedergeschlagenheit, der seltsam mit den reinen, frischen Zügen kontrastierte. Sie ging auf den Detektiv zu und reichte ihm die Hand. „Ich weiss, warum Sie hier sind, Mr. Jenkins; Papas Diener hat es mir gesagt. Grosser Gott — ich bin ja ganz fassungslos. Meinen Sie, dass ihm irgend etwas geschehen sein könnte? Noch nie in seinem Leben ist er später als zwei Uhr nachts nach Hause gekommen.“
„Ich muss gestehen“, fiel Doktor Jarl ein, „auch ich fühle mich mehr als beunruhigt. Haben Sie noch etwas Wichtiges zu fragen, Mr. Jenkins? Sonst möchte ich doch auf alle Fälle ein paar Leute ausschicken — denn irgendwo muss er doch schliesslich zu finden sein.“
„Tun Sie das, Herr Doktor. Ich werde Sie begleiten und einen Blick in die Garage werfen.“
„Ich gehe mit“ entschied Frau Thora.
* * *
Die kleine Garage lag am Ende der Lillegade — dort, wo die letzten Ausläufer des Föhrenwaldes den Ort säumten.
Doktor Jarl schloss auf. „Da ist das Auto“, sagte er.
Der kleine, leichte Wagen trug alle Spuren einer langen Fahrt. Räder und Kühler waren mit einer grauen Kruste bedeckt, und selbst auf der Stirnscheibe sassen ein paar erstarrte Spritzer.
Doktor Jarl winkte einen Burschen, der eben mit Eimer und Besen anrückte, heran und gab ihm ein paar eindringliche Aufträge, dann ging er, indem er sich kurz verabschiedete, mit jenem die Lillegade hinunter.
„Sagen Sie mir, Frau Jarl“, begann der Detektiv nach einer Pause, indem er den beiden Davonschreitenden gedankenvoll nachsah, „können Sie sich für das Verschwinden Thres Vaters irgendeine Erklärung geben?“
Die junge Frau sah ihn an und schüttelte den Kopf.
„Es ist da nämlich etwas, was die ganze Geschichte merkwürdig kompliziert. Ihr Herr Vater war gestern abend bei mir . . .“
Sie fuhr zurück: „Was Sie sagen . . .“
„Er erzählte mir von einer Versammlung der Steinbruchsbesitzer der Drei Königreiche — einer wichtigen Konferenz, der er gemeinschaftlich mit seinem Schwiegersohn — Threm Gatten — beigewohnt hätte.“
„Das stimmt.“
„Und nun erfahre ich zu meinem Erstaunen von Herrn Doktor Jarl: Ihr Vater hat mir die Unwahrheit gesagt. Er ist gar nicht auf der Versammlung gewesen.“
„Das begreife ich nicht.“
Er hat vielmehr im Frack, den er aus Sollihögda mitgenommen hatte, das Hotel verlassen; in demselben Frack hat er mich besucht. — Sind diese Angaben geeignet, Sie auf irgendeine Vermutung zu bringen?“
Die junge Frau sah den Amerikaner verständnislos an.
„Dieser Frack lässt auf einen Reisezweck schliessen, der mit geschäftlichen Dingen nichts zu tun hat.“
Ein Schatten wie ein leichtes Erröten ging über das Gesicht Thora Jarls. „Sie denken an eine Frau, Mr. Jenkins?“
„Vielleicht.“
„Ich habe nie gehört oder gesehen, dass mein Vater auch nur den Schatten einer Absicht hatte, sich wieder zu verheiraten.“
„Nun nun“ — begütigte der Detektiv — „man muss ja nicht immer gleich das Schlimmste denken. Wäre es nicht möglich, dass Ihr Herr Vater . . . schliesslich — er ist ein Mann in den besten Jahren — reich — unabhängig — niemandem Rechenschaft schuldig — warum sollte er nicht wie so viele Leute in Christiania eine kleine Liaison unterhalten?“
„Mr. Jenkins!“ In das Gesicht der jungen Frau trat ein abweisender Ausdruck. „Mein Vater ist ein gläubiger Protestant. Er hat sich nie in seinem Leben mit derartigen Damen abgegeben.“
„Um Gotteswillen“, besänftigte der Detektiv die Erzürnte. „Ich wollte Ihren Herrn Vater nicht beleidigen. Ich sehe, dass es Grenzen gibt, über die hinaus man mit einer Norwegerin nicht geben kann, ohne es mit ihr zu verderben.“
„Ich bin gewiss nicht prüde. Aber es ist geradezu absurd, meinen Vater in derartige illegitime Beziehungen zu einer Frau zu bringen.“
„Weiter wollte ich nichts wissen. — Ihr Herr Gemahl kam mit dem letzten Zuge, nicht wahr?“
„Ja.“
„Der um halb eins den Westbahnhof verlässt und um halb zwei in Sollihögda ist?“
„Ganz recht. Ich freute mich sehr auf die Rückkehr meines Mannes, denn er hatte mir versprochen, Verschiedenes für mich in Christiania einzukaufen: Seife, Parfums und dergleichen.“
„Sie wachten noch, als er kam?“
„Ja.“
„Wann war das?“
„Gegen dreiviertel zwei. Er brachte einen ganzen Arm voll mit: nicht nur Seife und Parfums und Seide — auch ein ganzes Pfund Konfekt und kandierte Früchte, die ich für mein Leben gern esse. Dann erzählte er mir von dem luftigen Nachtleben in Tostrupgaardens Café; dabei kamen wir in vergnügte Stimmung und er holte eine Flasche Sekt aus dem Keller. Dann plauderten und tranken wir. Brinjulf erzählte ein paar lustige Geschichten, die er in Christiania gehört hatte — denn Sie können sich denken, wenn so ein Rudel Herren aus aller Welt zusammen, kommt . . .“
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