„Sie sagen also, die Konferenz verlief ein wenig ungemütlich. Aus diesem Grunde verliessen Sie sie?
„Mir knurrte ausserdem der Magen. Also kurz und gut, ich ging allein, nahm mir im Boulevard-Restaurant eine gemütliche Ecke in der Nähe der Tür und bestellte ein gutes norwegisches Abendessen: ein paar horsd’oeuvres mit Austern und Hummern und Aquavit — getrüffelten Fasan — Tournedos — dazu Marnier und Mokka und eine Flasche Sekt.“
„Sie machen mir Appetit, Herr Waggeryd“, lachte Joe Jenkins. „Ich habe seit heute früh nichts gegessen.“
„Halte ich Sie etwa vom Abendessen — — — ?“
„Nicht im geringsten. Würde ich jetzt anfangen, so würde mein Appetit mit dem Essen wachsen. Und das wäre gegen alle Gesundheitsregeln der Welt. Nun muss ich’s schon bis morgen früh aushalten. Fahren Sie nur fort.“
„Man isst im Boulevard-Restaurant einfach klassisch — so gut wie bei Delmonico oder im Café de la Paix. Jedenfalls — als ich so beim dritten, vierten Glase Sekt angelangt war und mich, noch mit herzinniger Freude über den herrlichen Fasan, an die Ananasbaisers machte — da erschien mir die ganze Welt wieder in rosigem Licht. Ich sah ein, dass ich ein Dickkopf gewesen war — sowohl die Angestelltenversicherung als auch die Ausfuhrzölle waren schliesslich Dinge, über die sich reden liess. Man konnte sich eben auf halbem Wege entgegenkommen — schliesslich: die Geschichte der Menschheit besteht aus lauter Kompromissen. Ich würde morgen ein Zirkularschreiben an die Mitglieder ergehen lassen, meinen Standpunkt nochmals begründen — versteht sich — aber dabei durchblicken lassen, dass ich eventuell nicht abgeneigt sein würde — — — Und während sich mir so das vierte oder fünfte Glas einschenkte, bemerkte ich plötzlich zu meinem Erstaunen, dass ein Herr mir gegenüber Platz genommen hatte.“
„Ist das so auffällig?“ fragte der Detektiv lächelnd.
„Wenn Sie diesem Herrn gegenüber gesessen hätten, so würden Sie diese Frage nicht stellen, Mr. Jenkins. Der Herr, der mir gegenüberfass, war kein anderer als ich selbst.“
„Oho!“
„In jedem Zuge mein Ebenbild. Derselbe etwas grau melierte Spitzbart. Dieselbe Art, mit den Fingern der linken Hand auf den Tisch zu klopfen. Derselbe Brillantring am Ringfinger der rechten Hand. Dieselbe Chatelaine-Uhrkette wie ich — und dazu das auffällige Benehmen: er blickte mir unverwandt ins Gesicht. Ich rieb mir die Augen, denn offen gestanden, Mr. Jenkins, ich glaubte zunächst, ich hätte über den Durst . . .“
„Der Gedanke liegt nahe.“
„Nicht wahr? Aber ich war vollkommen nüchtern, das dürfen Sie mir glauben.“
„Redeten Sie ihn an?“
„Ich wollte es eben tun, als sich mein Erstaunen steigerte: er fasste plötzlich in den Eiskübel, nahm die Sektflasche heraus — meine Sektflasche — und schenkte sich ein. Etwa ein halbes Glas.“
„Stellten Sie ihn nicht zur Rede?“
„In jedem anderen Falle hätte ich das getan. Ich bin wahrlich der erste, wenn es gilt, einen frechen Witzbold in seine Schranken zu verweisen. Hier brachte ich kein Wort über die Lippen. Ich starrte ihn nur unentwegt an.
Und nun kommt das Seltsamste, was mir in meinem Leben widerfahren ist. Mein Vis-à-vis fasste, immer seine Augen in die meinen gesenkt, in seine Tasche, zog eine Nummer der Aftenposten hervor und schob sie mir langsam zu. Ich warf einen Blick auf das Blatt und sah ihm wieder ins Gesicht. Er deutete mit einer gebieterischen Handbewegung auf eine bestimmte Stelle. Unwillkürlich folgte mein Auge seiner Bewegung, und ich sah zu meinem Erstaunen ein Inserat, das meinen Namen in Fettdruck aufwies. Ich konnte ihn deutlich lesen, obwohl das Blatt verkehrtherum lag. Wie unter einem hypnotischen Zwang griff ich nach der Zeitung und drehte sie herum. Und was ich jetzt erblickte, ist das Unglaublichste, was Ihnen je ein Klient berichtet haben mag: das Inserat war meine eigene Todesanzeige.“
„Das klingt fast wie ein Traum“, sagte Joe Jenkins, indem er nachdenklich das Etui zog und eine Zigarette herausnahm.
„Nicht wahr? Und denken Sie sich: als ich den Kopf wieder hob, war mein Tischnachbar verschwunden.“
„Gingen Sie ihm nicht nach?“
„Selbstverständlich. Ich sprang auf und rannte nach dem Ausgang. Vergeblich.“
„Wäre es möglich, dass Sie einen Augenblick eingenickt wären und dass das alles, was Sie mir hier erzählen, der Gegenstand eines blitzschnellen Traumes gewesen wäre?“
„Aber die Zeitung, Mr. Jenkins!“
„Nun — auch die Zeitung könnte ein Produkt Ihres Traumes gewesen sein. War sie noch zur Stelle als Sie zurückkehrten?“
„Nein.“
Der Detektiv erhob sich und nahm eine Schachtel Streichhölzer vom Schreibtisch. „Sie war verschwunden“, nickte er lächelnd. „Das sieht fast aus, als ob meine Vermutung . . .“
„Nein, nein, Mr. Jenkins! Glauben Sie mir um Gotteswillen, jedes Wort ist volle und reine Wahrheit. Er hat mir gegenübergesessen — er hat mir meine Todesanzeige gezeigt — und er hat genau ausgesehen wie ich — — Wenn Sie mir das nicht aufs Wort glauben, ist natürlich jede Intervention, die ich von Ihnen erhoffe, sinnlos und aussichtslos.“
„Was geschah weiter?“
„Als ich zurückehrte, räumte der Kellner gerade den Tisch ab.“
„Hatten Sie denn schon bezahlt?“
„Nein. Das ist es ja eben. So stellte den Kellner zur Rede. ,Ich glaubte, Sie würden nicht mehr wiederkommen‘, sagte er. ,Ich pflege ein Lokal nicht zu verlassen, bevor ich bezahlt habe‘, antwortete ich mit gebührender Schärfe im Ton. Darauf sagte er zu meinem Erstaunen, indem er lächelte: ,Aber, mein Herr, die Fünfzig Kronen lagen doch unter der Serviette?“
Joe Jenkins schüttelte den Kopf. „Das ist allerdings fast der Gipfel der Seltsamkeiten.“
„Ich fragte nach der Aftenposten. Der Kellner hatte sie mit fortgeräumt.“
„Er musste schliesslich wissen, wohin.“
„Ich habe mit ihm gesucht. Die Zeitung war nicht mehr zu finden. Und nun sagen Sie mir, Mr. Jenkins — was bedeutet das?“
„Darauf kann ich Ihnen natürlich im Augenblick nicht die Spur einer Antwort geben, mein lieber Herr Waggeryd. Ein solcher Hexenmeister bin ich nun doch nicht. Ich kann nur Schritt für Schritt vorgehen wie ein guter Rechner, der höchstens ein bisschen schneller rechnet als andere. Zunächst sagen Sie mir einmal: haben Sie versucht, eine neue Nummer der Aftenposten zu bekommen?“
„Natürlich. Sofort. Und Pech, wie ich nun einmal heut habe: kein Händler mehr zu sehen. Die wenigen, die ich treffe, haben alle Zeitungen ausverkauft.“
Der Detektiv steckte die Hände in die Taschen und ging ein paarmal im Zimmer schweigend auf und ab. Er zog einen der Fenstervorhänge rasselnd zurück; draussen lag brodelnder, warmer Nebel über der stillen Strasse, durch die gelb und fahl das Licht der Bogenlampe schimmerte. Schweigend wandte sich der Amerikaner um, schweigend sah er seinem Besucher ins Gesicht. Dann riss er das Fenster auf, schleuderte die Zigarette in den wallenden Nebel hinaus, den sie in einem leuchtenden Bogen zerschnitt, und schloss das Fenster wieder mit einem krachenden Ruck. Dann, indem er sich plötzlich seinem Besucher zuwandte, sagte er:
„Mein lieber Herr Waggeryd, die Tatsache, dass Sie sich an mich wenden, nachdem Ihnen das widerfahren ist, was Sie mir da erzählen, lässt bereits einige ganz bestimmte Schlüsse zu. A priori ist nämlich Ihr Erlebnis viel eher Sache eines Nervenarztes als eines Detektivs. Das wissen Sie natürlich genau so gut wie ich. Wenn Sie trotzdem zu mir kommen, anstatt einen Arzt aufzusuchen, so geht daraus hervor, dass Sie sich im Grunde Ihrer Seele bereits eine Art von Kommentar gebildet haben, den Versuch einer Erklärung für das von Ihnen Gesehene. Diese Erklärung, an die Sie vielleicht selbst nicht glauben, die sich Ihnen aber doch, je mehr Sie sie überlegen, als Wahrscheinlichkeit aufdrängt, ist eine Drohung, die Sie herausfühlen.“ Und indem der Detektiv seinem Besucher die Hand auf die Schulter legte, fragte er in verändertem Tonfall: „Habe ich recht?“
Читать дальше