„Es muss“, sagte dieser lächelnd.
„Dann müssen Sie schon in die Druckerei gehen — die arbeitet die Nacht durch.“
„Wollen Sie mich hinführen?“
„Gott . . . warum nicht . . .“
„Wie wär’s mit Zehn Kronen?“
„Zehn Kronen? Mein Herr, ich führe Sie bis Skillebaek, wenn Sie es wünschen.“
Die beiden gingen durch die nächtliche Stadt. Der Zeitungshändler plauderte unaufhörlich in seinem von Hafenplatt durchsetzten Norwegisch, von dem der Fremde kaum ein Wort verstand. Überdies war er intensiv mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Die ganze Sache sah mehr und mehr nach den Faseleien eines halb Betrunkenen aus. Zugegeben — Herr Waggeryd machte einen guten Eindruck. Den denkbar besten, konnte man wohl sagen. Sicher hatte er nicht mit Absicht und nicht mit Bewusstsein Märchen erzählt. Aber das machte das Unwahre nicht wahr. Herr Waggeryd hatte sich geärgert. Seine Nerven, vielleicht sein Herz waren in Aufruhr gewesen, das hatte seine Empfänglichkeit für die Wirkung des Alkohols erheblich gesteigert. Die Flasche Sekt hatte ihn „umgeschmissen“. Vielleicht war er gar einen Augenblick eingenickt. Die Erscheinung des zweiten Gastes an seinem Tische und diese ganze Geschichte mit seiner eigenen Todesanzeige in der Aftenposten war einfach ein Traum gewesen. Ja — so war’s. —
„Da wären wir“, sagte eine tiefe, ein wenig beleidigte Stimme. Es war der Zeitungshändler, der seine Konversationsversuche seit einiger Zeit schmollend aufgegeben hatte. „Soll ich Ihnen eine herausholen?“
„Tun Sie das.“
Der Händler kam nach wenig Sekunden zurück, das Blatt wie eine Fahne schwenkend. Er erhielt seinen Zehnkronenschein, den er mit dem Ausdruck einer leisen Ungläubigkeit betrachtete; dann lüftete er respektvoll die Mütze und verschwand im Dunkel.
Der Detektiv trat in den Torbogen, der auf den Hof der Druckerei führte. Er überflog die Zeitung, wandte sie um — dort hinten standen die Familienanzeigen. Und hier — — —
Die Mitte der vierten Seite bildete ein schwarzgerändertes Inserat:
Durch einen unerklärlichen Unglücksfall
verschied heute
Herr Hjalmar Waggeryd.
Er ertrank im See von Sollihögda.
Die trauernden Hinterbliebenen.
Der Detektiv las das Inserat zweimal nachdenklich durch. Dann rief er ein Auto an, das im Schlendertempo durch die holprige Strasse rumpelte.
„Zum Hotel Belvédère — — —“
Der Nachtportier öffnete mit einer Verbeugung. „Ich muss Sie schon bitten, die Treppe zu benutzen, Mr. Jenkins. Wir stellen den Betrieb des Fahrstuhls um ein Uhr nachts ein.“
Als der Detektiv sein Zimmer betrat, läutete zu seiner Verwunderung die Telephonglocke.
„Halloh!“
„Eine Fernverbindung. Sie werden aus Sollihögda verlangt.“
Ein Surren setzte ein. Von irgendwoher kam ein ratterndes Drehen. Dann, mit einem Schlage, war alles still. Gleich darauf erhob sich wieder ein schwirrendes Summen und eine Stimme fragte:
„Ist dort Mr. Jenkins?“
„Ja. Sind sie es, Herr Waggeryd?“
„Ja, Mr. Jenkins.“
„Was wünschen Sie? Gibt es etwas Neues?“
„Ja. Bitte nehmen Sie sofort ein Auto und kommen Sie hierher.“
„Mitten in der Nacht?“
„Ich habe ihn eben wiedergesehen.“
„Ihr Ebenbild?“
„Ja. Mich selbst.“
„Wo?“
„Am See von Sollihögda.“
„Was tat er?“
„Er stand mitten auf der Landstrasse, als ich mit meinem Auto heransauste.“
„Konnten Sie ihn denn in der Nacht sehen?“
„Ich sah ihn deutlich im Licht der Scheinwerfer. Ich hielt auf ihn zu. Um es offen zu sagen — mir war es ganz einerlei — ich wäre geradenwegs über ihn weggefahren. Aber mit einem Schlage war er verschwunden.“
„Fiel Ihnen irgend etwas auf an ihm?“
„Er blickte mir entgegen, die Augen unverwandt auf mich gerichtet. Und mit der linken Hand . . .“
„Nun?“
„Wies er nach dem See.“
Der Detektiv sah auf die Uhr. „Es ist halb vier. Wie lange braucht das Auto?“
„Knappe Fünfviertelstunde.“
„Es ist gut. Ich komme.“
Das Auto kletterte die felsige Strasse herauf. Ein paar letzte Sterne verglommen am Himmel; fern drüben über dem Wenersee lag ein funkelnder Streifen, der sich in einer langen, rötlich flimmernden Linie nach Osten zog — bis dorthin, wo tief unter dem Horizont der Bottnische Meerbusen blaute.
Die schweren Schatten wichen zurück. Langsam trat das ernste Grün der Tannen aus dem Dunkel, das sich löste und hellte, und das silbrige Licht der beiden Scheinwerfer trat nun in einen scharfen Wettbewerb mit dem jungen Tag, der sich über die nordischen Lande erhob. Ein paar Lichter blitzten auf, schossen vorüber. Für eine Spanne zeigte sich schroffer Abhang der jäh und steil zum Fjord abglitt.
Die Strasse wurde breiter; die Bäume traten zurück. Der Himmel, der nun hell und blau geworden war, weitete sich über einer Hochebene. Dann schob sich langsam wieder Wald heran, öffnete sich zu einer schmalen Gasse, die in einer einzigen geraden Linie durch das Grün geschlagen war. Eine Holzkirche tauchte auf, flog vorüber.
Dann hörte der Wald auf. Die Strasse verbreiterte sich wieder, machte plötzlich eine Biegung nach Osten. Irgend etwas Helles tauchte auf; eine glitzernde Fläche schob sich heran.
Der Chauffeur wandte sich um: „Das ist der See von Sollihögda.“
Der Detektiv warf einen langen Blick auf das stille Wasser. Das Auto glitt weiter. Ein paar Blockhäuser tauchten auf. Hundegebell grüsste das Fahrzeug. Strassen teilten sich ab. Von links her — dort, wo hinten Häuserreihen schimmerten, kamen keine Trupps von Arbeitern, den blauen Kaffeetank über den Rücken gehängt.
Der Chauffeur rief einem von ihnen etwas zu, was der Amerikaner nicht verstand. Der Gefragte gab Auskunft, indem er mit der Hand nach vorn deutete.
Das Fahrzeug bog in eine Querstrasse ein. Saubere Drahtgitter zäunten ein paar Zimmerplätze ab, von denen der Geruch des frischen, feuchten Holzes kam. Ein paar Männer mit Zollstöcken in der Brusttasche, die qualmende Pfeife im Munde, die Hände in den Taschen, wandten sich kurz nach dem Auto um und musterten es mit ihren hellen fühlen Augen. Dann zog der Chauffeur die Bremse und das Auto hielt.
Das efeubesponnene Haus blickte hell und freundlich in den jungen Morgen. Die Fenster waren mit grünen, sauber gestrichenen Jalousien verschlossen; rechts lief ein langer Spalierweg, von Heckenrosen überspannt; dazwischen rechts und links in verschwenderischer Behäbigkeit standen Kirschbäume und Moltebeersträucher.
Joe Jenkins entlohnte den Chauffeur und ging langsam den Spalierweg entlang.
Hinten lag das Bureauhäuschen, ein sauberer kleiner Fachwerkbau.
Porphyrwerke Sollihögda
Hjalmar Waggeryd
stand auf dem breiten blitzenden Zinkschild, das kein Fleckchen trübte. Eben kam ein junger, gut gekleideter Herr aus dem Bureauhause, der den Fremden neugierig musterte und langsam, wie auf eine Anrede wartend, an ihm vorüberschritt. Da jener keine Miene machte, sein Hiersein zu erklären, wandte er sich um und sagte in der ruhigen Art des Nordländers mit dem unverkennbar hochmütigen Unterton:
„Mein Name ist Doktor Brinjulf Jarl. Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich suche Herrn Waggeryd, mein Herr. Mein Name ist Joe Jenkins.“
Doktor Jarl zuckte die Achseln wie zum Zeichen, dass ihm der Name unbekannt sei. Dann sagte er, indem er nach vorn deutete: „Mein Schwiegervater steht so früh nicht auf. Ich fürchte auch, offen gestanden, dass ein so zeitiger Besuch ihn stören wird. Immerhin — ich könnte ja versuchen Sie anzumelden.“
Der Amerikaner machte eine dankende Handbewegung. „Herr Waggeryd erwartet mich.“
* * *
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