Der Steinbruchbesitzer blickte zu Boden: „Es ist möglich, dass Sie recht haben.“
„Es ist gewiss“, sagte der Amerikaner. „Die Erscheinung dieses Mannes, der Ihnen aufs Haar ähnlich sieht — so ähnlich sieht, dass Sie ihn als Ihr zweites Ich bezeichnen — hat in Ihnen bestimmte Kombinationen erweckt. Sie müssten kein Norweger sein, Herr Waggeryd, wenn es nicht so wäre. Wäre es nicht so, so wären Sie — ich wiederhole es — nicht zu mir gekommen; denn zu mir kommen, heisst: meinen Schuss wünschen.“
Der Besucher nickte. Nun ja, Mr. Jenkins, Sie haben wohl recht. Sie haben Dinge in mir mit Worten benannt, die ich vielleicht nur erfühlt habe, über die ich mir selbst keine Rechenschaft gegeben habe. Es ist wohl in der Tat so: ich empfinde die Erscheinung dieses meines zweiten Ichs als den Vorboten eines Unglücks. Sie hatten nur zu recht, als Sie meine Nationalität betonten. Wir Norweger neigen zum Grübeln. Unser Land ist zerklüftet und verschneit, den grössten Teil des Jahres in einen undurchdringlichen Winter gehüllt; an unseren Küsten rast ein erbarmungsloses Meer und durch die Lüfte zieht heulend der Tross des Wilden Jägers. In unseren Fjorden spukt es und in unseren Königsschlössern gehen nächtliche Stimmen als Künder des Unheils um; und unsere Seeleute, wenn sie heimkehren von China und vom Kap Horn, erzählen uns tausend Dinge von Sturm und Not und vom Fliegenden Holländer. In der Tat, Mr. Jenkins, wir sind ein abergläubisches Volk.“
„Ich glaube,“ sagte der Amerikaner, „an die Erscheinung des zweiten Ichs knüpft sich ein ganz bestimmter Aberglaube? Der sich übrigens nicht nur in Skandinavien findet.“
„Man sagt,“ nickte der Fremde fast flüsternd, „dass es den baldigen Tod bedeute, wenn man sich selbst begegne.“
Der Detektiv zog die Uhr. „Es geht auf eins. Vielleicht bleiben Sie diese Nacht im Hotel Nobel?“
„Das ist leider unmöglich. Wir haben morgen früh wichtige Sprengungen — ich sagte es Ihnen schon. Ich muss um halb sieben auf dem Platze sein. Der früheste Zug aber läuft erst um sieben in Sollihögda ein.“
„Ist The Chauffeur zuverlässig? Ich meine, falls er sich inzwischen vielleicht ebenfalls ein wenig in Christiania umgetan hätte . . . Auge und Hand pflegen unter dem Einfluss des Alkohols nicht eben sicherer zu werden . . .“
Der Besucher lachte: „Ich steuere mein Auto selbst.“
„Ah!“
„Ich kann auch nicht eigentlich sagen, dass es etwas Körperliches ist, wovon ich mich bedroht fühle. Ich bin von Natur nichts weniger als ängstlich.“ Er streckte mit einer kräftigen Geste den Arm. „Ich stehe meinen Mann.“
„Dann also glückliche Fahrt — und sollte sich irgend etwas ereignen, so rufen Sie das Hotel Belvédère an.“
Der Steinbruchbesitzer reichte dem Detektiv die Hand. „Die Unterredung mit Ihnen hat mich mehr beruhigt, als Sie glauben, Mr. Jenkins. Es tut wohl, einem Manne zu begegnen, der auch dem Ungewöhnlichen gegenüber den Kopf oben behält und der einen daran erinnert, dass in der ganzen Welt mit Wasser gekocht wird. Ich danke Ihnen — und gute Nacht.“
Der Amerikaner behielt einen Augenblick die Hand seines Besuchers in der seinen. „Sie sind Witwer, Herr Waggeryd?“
„Ja. Seit achtzehn Jahren.“
„Ist Ihre Tochter, die mit Herrn Doktor Jarl verheiratet ist, Ihr einziges Kind?“
„Ja. Thora ist vor kurzem zweiundzwanzig geworden. Ich selbst gehe ins fünfzigste Lebensjahr.“
„Warum haben Sie nicht wieder geheiratet?“
Waggeryd sah dem Fragenden ins Gesicht und einen Moment lang schien es, als ob eine flüchtige Röte über seine Züge ging. Dann, indem er die Hand auf die Klinke letzte, sagte er:
„Leben Sie wohl, Mr. Jenkins.“
Der Detektiv trat ans Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Der Nebel hatte sich ein wenig verzogen. Ein leichter Wind kam vom Fjord her, der feuchte Tropfen von dem dunklen Grün der Bäume gegen die Scheiben schleuderte.
Joe Jenkins nahm Hut und Paletot von der Chaiselongue, warf einen schuldbewussten Blick auf den von Briefschaften und Telegrammen bedeckten Schreibtisch und verliess das Zimmer.
* * *
Die Kellner, die eben mit unfreundlicher Geschäftigkeit die Tische und Stühle aufeinander stapelten, blickten erstaunt auf den späten Gast.
Es war keine ganz leichte Arbeit, den Übermüdeten, die feindselig dreinblickten, weil sie ihren Feierabend gefährdet sahen, klar zu machen, um was es sich handle. Volle zehn Minuten währte es, bis Joe Jenkins den richtigen Kellner gefunden hatte.
Ja. Er erinnerte sich jenes Gastes. Er hatte am Ecktisch in unmittelbarer Nähe der Tür gesessen und ein Souper eingenommen. Dazu Sekt. Gesamtbetrag fünfundvierzig Kronen; fünf Kronen Trinkgeld.
„Stimmt. Weiter: ist Ihnen eine Ähnlichkeit mit dem zweiten Herrn aufgefallen, der am gleichen Tische sass?“
„Mit was für einem zweiten Herrn?“
„Mit dem zweiten Herrn mit graumeliertem Spitzbart, einem Brillantring an der rechten Hand — er hat sich aus der Flasche des ersten Herrn ein halbes Glas Sekt eingeschenkt und es ausgetrunken. Darauf ist er gegangen.“
Der Kellner hatte bei diesen Worten immer er stauntes dreingeblickt. „Ein zweiter Herr? Der genau so ausgesehen haben soll wie der andere?“ Und, indem sich in sein Gesicht ein breites Lächeln eingrub, sagte er mit einer energischen Kopfbewegung: „Nein, mein Herr. Ich habe keinen zweiten Herrn gesehen.“
„So. Nun sagen Sie mir, was für einen Eindruck machte denn der eine Herr? Wäre es möglich, dass er vielleicht ein bisschen . . .“
Der Kellner spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wollte. „Das wäre durchaus nicht unmöglich, mein Herr. Er war ziemlich rot im Gesicht. Und einmal, da war er plötzlich verschwunden — er muss blitzartig schnell hinausgelaufen sein. Ich glaube, das tut man nur, wenn Not am Mann ist.“
„Fürchteten Sie für Ihre Zeche?“
„Offen gestanden — einen Augenblick. Ich wollte ihm schon nacheilen, da — zum Glück — kam mir der Gedanke, den Tisch erst gründlich abzusuchen. Als ich die Serviette aufhob, lagen die Fünfzig Kronen darunter.“
„Er kam aber wieder zurück?“
„Ja — und er machte mir Vorwürfe, dass ich schon abgeräumt hatte. Ich erklärte ihm, da das Geld auf dem Tisch läge, hätte ich natürlich angenommen, er käme nicht mehr wieder. Darauf gab er mir eine ganz komische Antwort: er hätte kein Geld hingelegt. Nun, mein Herr, wenn ich bisher gezweifelt hatte — jetzt war es mir ziemlich klar, dass er mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte.“
„Fragte er nach einer Zeitung?“
„Richtig. Nach der Aftenposten.“
„Wie kam es, dass sie nicht mehr vorhanden war?
„Du lieber Gott — die Gäste lassen haufenweise Zeitungen und Journale zurück. Wir werfen sie einfach durch das Korridorfenster auf den Hof hinunter. Das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Ich habe dann so getan, als ob ich die Zeitung suche, sie aber natürlich nichr mehr gefunden. Er kann sich doch für zwei Öre eine neue kaufen.“
„Haben Sie in die Zeitung hineingeblickt?“
„Nein, mein Herr.“
„Ich danke Ihnen. Nehmen Sie das für den Zeitverlust.“
„Ergebensten Dank.“
Die Karl Johansgade war jetzt vollkommen menschenleer. Der Südwind trug jenen seltsamen Duft herüber, der die Hafenstädte der ganzen Welt kennzeichnet: ein Gemisch von Rauch, Teer und salziger Frische.
Dort drüben ging ein alter Zeitungshändler mit seinem Korb, der nun verschlossen und verschnürt war. „Haben Sie noch die Aftenposten?“
„Nein, mein Herr. Ausverkauft.“
„Wo kann ich sie noch bekommen?“
„Heute nacht noch?“ Der Händler sah den Fragenden zweifelnd an: „Muss es denn gerade die Aftenposten sein?“
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