Die Klingel ging laut und gellend durch das Haus. Das verschlafene Gesicht eines Dieners erschien in der sich spannweit öffnenden Tür.
„Ich möchte Herrn Waggeryd sprechen.“
„Herr Waggeryd schläft noch.“
„Das macht nichts.“ Der Detektiv schob mit leichter Mühe die Tür auf und drängte an dem verdutzt und mürrisch Widerstand leistenden Diener vorüber.
„Führen Sie mich in sein Schlafzimmer.“
„Ich weiss wirklich nicht . . .“
„Es ist gleichgültig, was Sie wissen oder nicht“, sagte der Detektiv lachend, indem er jenem auf die Schulter schlug. „Nun, halten Sie mich nicht auf und führen Sie mich in Herrn Waggeryds Zimmer.“
Der Diener machte ein halb resigniertes, halb beleidigtes Gesicht und ging brummend die Treppe hinauf mit sichtlich betonter, misslauniger Langsamkeit. Endlich blieb er an einer der drei Türen stehen, die auf den Korridor des ersten Stocks mündeten und klopfte leise an.
Keine Antwort kam.
Der Detektiv pochte dreimal laut und kräftig — zum Entsetzen des Dieners, der erschrocken zusammenfuhr.
Keine Antwort.
Joe Jenkins letzte die Hand auf die Klinke. Die Tür war unverschlossen.
Die beiden traten ein. Hell und scharf flutete das Morgenlicht in den kleinen vornehm ausgestatteten Raum. Er war leer. Zur Rechten stand das Bett. Es war unbenutzt.
Aus dem Gesicht des Dieners war mit einem Schlage der mürrische, verschlafene Zug verschwunden. Er blickte mit weit aufgerissenen Augen im Zimmer herum, sah dann den Besucher an und sagte kopfschüttelnd: „Meiner Seel, das begreife ich nicht. Ich habe ihn doch selbst heimkommen hören.“
„Wann war das?“
„Ein paar Minuten vor halb vier.“
„Haben Sie ihn gesehen?“
„Als ich herunterkam — ich schlafe im zweiten Stock — war er schon auf seinem Zimmer.“
„Darauf gingen Sie wieder schlafen?“
„Nein. Ich klopfte an und fragte ihn, ob er noch Wünsche hätte.“
„Womit war er beschäftigt, als Sie ins Zimmer blickten?“
„Er sass am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Fast schien es mir, als ob er schwere Sorgen hätte — ja einen Moment lang glaubte ich, dass er weinte.“
„Warum kamen Sie herunter, als Sie ihn kommen hörten?“
„Er wünscht manchmal noch ein Glas Grog, wenn er spät heimkommt; ich koche ihm dann etwas Wasser auf dem kleinen elektrischen Kocher in der Küche.“
„Sie sind ein guter Diener. — Hatte er heute nacht derartige Wünsche?“
„Nein. Er schüttelte nur den Kopf und seufzte.“
„Darauf gingen Sie wieder schlafen?“
„Ja. Ich ging auf mein Zimmer.“
„Nun hörten Sie nichts mehr?“
„Doch. Etwas, was mich ein wenig in Erstaunen setzte . . .“
„Nun?“
„Ich hörte ihn telephonieren.“
„Ist das Haus so hellhörig?“
„Je nun — mitten in der Nacht — ich hörte, dass die Glocke anschlug, als er den Hörer abnahm. Dann hörte ich ihn etwas in den Apparat rufen.“
„Konnten Sie verstehen, was er sagte?“
„Nein. Dann nach ungefähr fünf Minuten klingelte das Läutewerk — es scheint sich also um eine Fernverbindung gehandelt zu haben.“
„Sehr gut. — Konnten Sie irgend etwas verstehen?“
„Nein. Ich hörte nur, dass er sehr schnelt sprach. Er muss wohl sehr aufgeregt gewesen sein.“
Joe Jenkins nahm den Hörer des Telephons ab. „Bitte können Sie mir sagen, wohin heute nacht um halb vier von diesem Apparat aus gesprochen worden ist?“
„Einen Moment.“
„Und nun kam das Seltsamste“, fuhr der Diener fort. „Ungefähr eine Viertelstunde später . . .“
Aus dem Apparat kam eine kühle, amtliche Stimme: „Heute nacht um halb vier ist von dort aus ein Gespräch mit Christiania geführt worden — mit dem Hotel Belvédère.“
„Ich danke“, sagte der Detektiv und letzte kopfnickend den Hörer auf die Sabel. „Sie sagen, es hat sich noch etwas weiteres ereignet?“
„Ja. Eine Viertelstunde später hat Herr Waggeryd das Haus wieder verlassen. Das hat er noch nie in seinem Leben getan. Sie können sich vorstellen, wie ich mich darüber wunderte.“
„Hörten Sie ihn oder sahen Sie ihn fortgehen?“
„Ich hörte ihn und sah ihn. Er hatte den Kragen aufgeklappt und ging quer hinten über Asmussens Hof.“
„Welchen Eindruck hatten Sie — wohin ging er?“
Der Diener zuckte die Achseln, als ob er etwas ausspräche, was ihm selbst nicht in den Kopf wollte: „Er ging in der Richtung nach dem See zu.“
„Hörten Sie ihn zurückkommen?“
„Nein. Ich habe etwa eine Stunde gewacht, denn ich hatte natürlich geglaubt, er müsse jede Minute wiederkommen.“
„Haben Sie sich irgendeine Meinung darüber gebildet, was dieser nächtliche Gang zu bedeuten haben könnte?“
„Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, aber mit dem besten Willen habe ich mir keine Antwort darauf geben können. Einen Augenblick habe ich gedacht, er wolle vielleicht einen Brief einstecken; aber das Postamt liegt gegenüber dem Bahnhof, und dieser Hinterweg ist also viel mehr ,um‘ als der Weg über die Lillegade.“
„Demnach kann es Sie doch nicht einmal so sehr überrascht haben, dass jetzt das Bett leer ist.“
„Der Diener machte ein etwas hilfloses Gesicht, dann sagte er: „Mein Herr — ich habe schliesslich geglaubt, ich hätte das alles geträumt — warum in aller Welt sollte der Herr mitten in der Nacht sein Haus verlassen? Als ich heute morgen aufwachte — ich hörte Ihr Auto vorfahren — da hatte ich ein paar Stunden tief und fest geschlafen und die ganzen Dinge der letzten Nacht sahen nun völlig anders aus.“
Der Detektiv blickte auf die Uhr. Sie zeigte auf halb sechs. „Das lässt sich hören“, sagte er. „Könnte es etwa sein, dass Herr Waggeryd schon vorm Morgengrauen nach dem Porphyrbruch hinausgegangen wäre?“
„Das ist ganz unmöglich. Er hatte seinen grauen Stadtanzug an; der würde im Steinbruch in einer halben Stunde schön aussehen!“ Der Diener wies auf den englischen Lederkoffer, der auf einem kleinen zusammenklappbaren Bock stand. „Den hat er gestern abend mitgenommen; ich hatte ihm den Frack hineingelegt. Nein — nein, mein Herr, hier ist ein Unglück geschehen.“
„Wo wohnt sein Schwiegersohn, Herr Doktor Jarl?“
„Drüben, Frydenlunds-Gade 1.“
„Wann pflegen Sie Herrn Waggeryd zu wecken?“
„Gewöhnlich steht er um halb sieben Uhr auf. Heute sollte ich ihn eine halbe Stunde früher wecken; denn um halb sieben Uhr beginnen die grossen Versuchssprengungen.“
„Ziehn Sie sich an und fragen Sie einmal unauffällig im Ort herum; vielleicht finden Sie eine Spur von Herrn Waggeryd — vielleicht klärt sich alles harmlos auf. Sollten Sie mir etwas zu melden haben: Sie treffen mich bei Herrn Jarl in der Frydenlunds-Gade.“
* * *
Doktor Jarl selbst öffnete. In seinem hellen, regelmässigen Gesicht lag eine leise Unruhe. „Was ist mit meinem Schwiegervater?“ fragte er in besorgtem Ton. „Mir ist jetzt eingefallen: ich kenne Jhren Namen, Mr. Jenkins. Ich glaube, dass er für bürgerliche Begriffe sozusagen nichts Gutes bedeutet. Hat sich etwas ereignet, was Ihre Anwesenheit erforderlich macht?“
Der Detektiv trat langsam ein und letzte unter Assistenz Jarls Hut und Mantel ab. „Ihr Schwiegervater ist verschwunden“, sagte er endlich.
„Mein Gott — ich hörte doch heute Nacht das Auto durch unsere Strasse fahren.“
„Das Gleiche sagt der Diener. Er ist auch richtig auf sein Zimmer gegangen, hat es aber eine Viertelstunde später wieder verlassen. Seltsamerweise hat er nicht den Weg über die Lillegade benutzt, sondern ist hinten über das Gehöft des Nachbarn gegangen.“
„Zum See?“ fragte Jarl erstaunt.
„Ja. Nicht wahr, Sie waren mit ihm in Chriftiania?“
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