Der Weiher war am Rand wie immer voller Entengrütze, doch das Wasser war unglaublich warm und weich, braun, aber klar, so daß man an manchen Stellen bis auf den moorigen Grund sehen konnte. Wir wußten, daß am Ufer Ringelnattern hausten, die sich manchmal plötzlich mit leichtem Platschen ins Wasser gleiten ließen und sich wie verzauberte Märchenwesen durch den Weiher bewegten, die Köpfe mit den gelben, halbmondförmigen Schläfenflecken erhoben. Doch sie waren scheu und flohen, wenn Menschen in ihre Nähe kamen; und wir hatten keine Angst vor ihnen.
Eine Weile schwammen wir glücklich und entspannt, ließen uns auf dem Rücken im Wasser treiben, die Sonne auf unseren Gesichtern. Noch schwirrten Lerchen singend über den Wiesen, und wieder einmal hätte ich die Zeit festhalten mögen; denn ich war kein Kind mehr und wußte längst, wie flüchtig glückliche Stunden sind.
Später lagen wir unter den Weiden im hohen Gras. Die Pferde hatten ihre Fesseln im Wasser gekühlt und grasten zufrieden im Schatten. Matty spielte auf seiner Mundharmonika, Maja strickte an einem Pullunder, Jörn schrieb in sein Tagebuch. Ich war am faulsten, saß gegen seinen Rücken gelehnt und sah träge übers Wasser, wo die Libellen mit ihren schillernden, raschelnden Flügeln hintereinander herjagten, wo Frösche zwischen den Schilfrohren auftauchten und Molche an die Wasseroberfläche kamen, um Beute zu machen.
Matty spielte: „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb; sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief ...“ Da schlief ich ein.
Als ich wieder aufwachte, war das Picknick auf einer Wachstuchdecke vorbereitet – Obst, Tomaten, belegte Brote und eine Schüssel voll Karottensalat; dazu gab es Saft und kalten Tee. Die Pferde dösten unter den Bäumen, und ich erzählte von Hobendoblers Gärtnerei, von Birgits Orchideen und Kamelien und den alten Rosensorten, die so herrlich duftende, gefüllte Blüten trugen, wie man sie auf den Bildern alter Meister sieht – in allen Schattierungen, von puderfarben bis violett, von zitronengelb bis honigfarben.
„Vielleicht könntest du dich später mal mit Carmen zusammentun“, sagte Maja plötzlich. „Wenn sie den Bergerhof übernimmt und auf biologisch-organischen Anbau umstellt, könntest du da nicht auf einem Teil ihres Grundstücks eine Gärtnerei aufmachen? Das würde doch prima zusammenpassen, nachdem du ja auch keinen Kunstdünger und keine chemischen Spritzmittel verwenden willst.“
Ich starrte sie an. Die Idee war gut, sehr gut sogar. Daß ich daran noch nicht selbst gedacht hatte! Ich nahm mir vor, gleich heute abend mit Carmen darüber zu reden, wenn sie nach Dreililien kam.
„Du wirst wahrscheinlich auf die Landwirtschaftsschule in Weihenstephan gehen müssen“, sagte Jörn. „Aber soviel ich weiß, wurschteln die noch kräftig mit Chemie und Giften herum. Mit biologischem Anbau sieht’s da vorerst noch recht bescheiden aus.“
„Das ist etwas, was man sich halt selbst beibringen muß. Es gibt genug Bücher darüber“, sagte ich. „Außerdem kann man auch ein Praktikum in einer Gärtnerei machen. Dann muß man sich eben jemanden wie Birgit suchen, der giftfrei gärtnert.“
„Und überhaupt sind das alles noch ungelegte Eier“, meinte Matty gelassen. „Laß uns erstmal mit der Schule fertig werden, Nell.“
„Falls ich das Abi nicht schaffe, weiß ich sowieso nicht, ob sie mich auf der Landwirtschaftsschule nehmen“, sagte ich düster.
„Dann gehst du eben schlicht und einfach zu einem Gärtner in die Lehre“, tröstete mich Maja, die nicht viel von Schulabschlüssen hielt. Sie selbst war gegen den Willen ihrer Eltern vorzeitig vom Gymnasium abgegangen und hatte eine Ausbildung als Pferdepflegerin begonnen. Ihrer Meinung nach gab es sowieso zu viele stellungslose Abiturienten und Akademiker in unserem Land, und sie hielt es für Zeit - und Energieverschwendung, sich den Kopf jahrelang mit trockenem Lehrstoff vollzustopfen, den man später im Leben sowieso meist nicht braucht. Wenn ich mir die Sache genauer überlegte, kam ich zu dem Ergebnis, daß sie recht hatte. Trotzdem wollte ich versuchen, das Abitur zu schaffen – weniger für mich selbst als hauptsächlich deshalb, weil ich meinen Vater nicht enttäuschen wollte.
Die Pferde kamen und forderten wie Diana ihren Anteil am Picknick. Später standen sie am Weiher und sahen uns beim Baden zu. Hazel, Nofret und Eileen ließen sich genüßlich mit Wasser bespritzen, doch Katama wich zurück und brachte sich schleunigst in Sicherheit wie eine gezierte Dame, die um ihr weißes Seidenkleid fürchtet.
„Zimperliche Tussi!“ lachte Jörn. Dann hielt er sich die Nase zu, holte tief Luft und tauchte unter, und gleich darauf spürte ich, wie mich jemand am Fußgelenk packte, Ich kreischte wild und platschte im Wasser herum, und Hazel kam näher ans Ufer und schnaubte besorgt.
Als Jörn wieder auftauchte, gab es eine Wasserschlacht, bei der Maja und ich gegen „die Männer“ antraten. Diana paddelte im Wasser herum und bellte, und die Pferde verzogen sich, weil es ihnen zu ungemütlich wurde.
Noch einmal legten wir uns ins Gras und ließen uns von der Sonne trocknen. Matty und Maja schliefen dicht aneinandergeschmiegt ein, und ich massierte Jörn die Schultern und den Rücken.
Nach einer Weile merkte ich, wie er sich immer mehr entspannte und „wegdriftete“. Irgendwo zirpte eintönig eine
Grille. Die Stuten standen unter den Weiden und beknabberten sich. Diana hatte sich im Schatten ausgestreckt. So, dachte ich, müßte es immer bleiben. Es müßte immer Sommer sein, und wir dürften nicht älter werden. Vielleicht ist es das, was die Menschen sich unter dem Paradies vorstellen – daß es einen Ort gibt, an dem man sich nach dem Tod aufhält, ohne Sorgen und Krankheit, ohne Alter und Kummer, an einem Sommertag, der nie endet. Für mich hätte der Weiher am Wald ein solcher Ort sein können.
Mikesch begrüßte uns bei unserer Rückkehr mit der Nachricht, daß sich unerwartet noch einmal Gäste für die letzte Ferienwoche bei uns angesagt hatten.
„Es wird nicht einfach sein“, sagte er. „Es sind vier Leute zwischen fünfzehn und neunzehn, alle behindert. Und natürlich ohne Reiterfahrung.“
Wir sahen ihn überrascht an. Bisher hatten wir nur einen Behinderten unter unseren Reitschülern – Moritz, der Spastiker war.
„Sind sie schwer behindert?“ fragte Jörn.
Mikesch machte ein zweifelndes Gesicht. „Jedenfalls nicht so schwer, daß man sie nicht auf ein Pferd setzen könnte. Zwei sind mongoloid, einer ist Spastiker, einer hyperaktiv. Die Eltern der vier scheinen sich zusammengetan zu haben. Offenbar sind sie mit Moritz’ Mutter bekannt, die ihnen so vom Reitunterricht hier vorgeschwärmt hat, daß sie auf die Idee gekommen sind, ebenfalls nach Dreililien zu kommen.“
„Aber wir wollten doch eigentlich keine Erwachsenen als Reitschüler aufnehmen“, wandte ich ein.
„Das ist das geringste Problem. In diesem Fall könnten wir eine Ausnahme machen“, meinte Mikesch.
„Und wie sollen wir hier mit Behinderten klarkommen?“ fragte Jörn. „Können sie sich denn überhaupt selbst versorgen?“
„Die Frau, die mit mir telefoniert hat, meinte, sie und ihr Mann würden die vier Reitschüler betreuen und sich bei uns einmieten“, erklärte Mikesch. „Damit hätten wir also keine Schwierigkeiten.“
„Und was sagt Vater dazu?“ fragte Matty.
„Er ist der Meinung, daß wir es versuchen sollten.“
„Aber wäre es nicht besser, wenn die Leute es bei einer Ponyreitschule versuchen würden?“ warf Maja ein. „Ponys sind ruhiger und leichter zu handhaben. Behinderte Leute auf so großen, nervösen Stuten wie den unseren, das ist nicht gerade die ideale Lösung, finde ich.“
„Sie haben es offenbar schon bei ein paar Ponyhöfen im bayerischen Raum versucht, aber nur zwei nehmen Behinderte auf, und die waren total überfüllt. Es scheint sowieso recht schwierig zu sein, einen Ort zu finden, an dem Behinderte gemeinsam Urlaub machen können. Offenbar gibt’s Gastwirte und Ferienveranstalter, die fürchten, der Anblick von Behinderten könnte die anderen Gäste stören.“ Mikesch seufzte. „Außerdem scheinen sich die Bergböhmers von Dreililien besonders viel zu versprechen, weil wir mit Moritz so gut klarkommen. Ich hab Frau Bergböhmer jedenfalls gesagt, daß ich noch mit euch sprechen wollte, ehe ich ihr endgültig Bescheid gebe. Denn es kann sein, daß ich eure Hilfe brauche. Ihr wißt ja, daß Helge jetzt drei Wochen Urlaub hat.“
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