„Hast du die Windpocken gut überstanden?“ fragte ich, und er lachte.
„Erinnere mich bloß nicht daran! In meinem Alter noch Kinderkrankheiten zu kriegen, und ausgerechnet in den großen Ferien, wo’s hier rundgeht! Jetzt fehlt nur noch Ziegenpeter in meiner Sammlung. Tut mir echt leid, daß ihr meinetwegen um eure Toskana-Reise gekommen seid, du und Jörn.“
„Macht nichts“, sagte ich. „Dafür hab ich Geld verdient und weiß vielleicht sogar, was ich später mal machen will. Den Urlaub können wir im Frühling nachholen.“
„Na, dann hab ich die Windpocken ja nicht ganz umsonst gehabt“, sagte Mikesch. „Jetzt werde ich mal nach Jorinde sehen. Sie gefällt mir nicht recht.“
„Bekommt sie nicht in ein paar Wochen ihr Fohlen?“
„Ja, in ungefähr achtzehn Tagen ist es soweit. Aber sie ist schon jetzt so verdammt unruhig, und das Fohlen bewegt sich zu wenig.“
Gemeinsam gingen wir zu Jorindes Box. „Hast du schon mit Dr. Hofbauer gesprochen?“
„Er hat sie untersucht, konnte aber nichts feststellen. Seiner Meinung nach ist alles in Ordnung. Hoffen wir bloß, daß er recht hat.“
Ich neigte dazu, mehr auf Mikeschs Urteil zu vertrauen als auf das von Dr. Hofbauer. Dr. Hofbauer war ein guter Tierarzt; er kannte sich mit Pferden aus, ebenso wie mit Hühnern und Schweinen und Kühen. Mikesch dagegen war auf einem Gestüt geboren und mit Pferden aufgewachsen.
Vorher, als ich von Box zu Box gegangen war, hatte ich nichts Ungewöhnliches an Jorinde bemerkt; abgesehen davon, daß ihr
Bauch noch praller geworden war. Jorinde war eine unserer wertvollsten Stuten. Für den Reitunterricht wurde sie nicht eingesetzt; sie war Zuchtstute. Ihre Fohlen waren längst in alle Winde verstreut; einige hatten Preise auf Turnieren gewonnen. Sie war eine Araberstute, ein ausgesprochen edles, wenn auch schrecklich nervöses Pferd, das sich nur von Mikesch oder Matty striegeln ließ. Ich paßte immer auf, daß ich ihr nicht zu nahe kam, und hätte mich nie in ihre Box gewagt.
„Aber sie hat doch schon früher Fohlen gehabt“, sagte ich. „Und es ist immer gutgegangen.“
„Na ja, gut ist vielleicht übertrieben. Die letzten beiden Male ging’s ja ohne größere Probleme, aber Herr Moberg hat mir erzählt, daß sie vor ein paar Jahren eine Totgeburt hatte, und einmal lag das Fohlen verkehrt. Bei diesen hochgezüchteten Pferden kann man nie genau Vorhersagen, was passiert.“
Er öffnete eine der Boxtüren auf der linken Stallseite und ging hinein. Jorinde wich zurück. Das hatte sie bei Mikesch bis jetzt noch nie getan.
„Hab keine Angst, mein Mädchen“, murmelte er. „Es passiert ja nichts. Wie geht’s dir heute?“ Und über die Schulter sagte er: „Jedenfalls nehme ich stark an, daß es eine Frühgeburt wird.“ Das konnte bedeuten, daß wir das Fohlen nicht durchbrachten; und das wiederum bedeutete einen weiteren finanziellen Verlust für Dreililien, nachdem wir in diesem Jahr schon genug Schwierigkeiten gehabt hatten. Der Reaktorunfall in Tschernobyl hatte uns neben aller Angst und Unsicherheit auch zusätzliche Geldsorgen gebracht. Im Frühling hatten wir die Pferde wochenlang nicht auf die Weide bringen und das fette Maigras nicht verfüttern können. Wir hatten Trockenfutter kaufen und das Gras vernichten müssen; und in den Pfingstferien waren weniger Ferienreiter als sonst gekommen. Dann war die Stute Rapunzel gegen ein Auto gelaufen und gestorben. Ich seufzte.
Mikesch strich Jorinde über die Flanken. Er sah mich an und sagte: „Der alte Moberg dreht durch, wenn’s mit dem Fohlen nicht klappt. Er hat eine Menge Deckgeld gezahlt. Aber warten wir erstmal bis zum nächsten Frühling, wenn die Stuten ihre Fohlen bekommen, die in diesem Mai erst kurze Zeit trächtig waren. Da wird das dicke Ende wohl erst noch auf uns zukommen.“
„Du meinst, die Fohlen könnten mißgebildet sein?“ fragte ich erschrocken.
„Radioaktivität kann das Zellwachstum bei Ungeborenen empfindlich stören“, sagte Mikesch ruhig. „Sowohl bei Menschen als auch bei Tieren. Es hat keinen Sinn, vor solchen Dingen die Augen zu verschließen, Nell. Die Sache ist noch lange nicht ausgestandenim Gegenteil. Die Folgeschäden können in einem Jahr, vielleicht auch erst in zehn Jahren auftreten – und nicht nur bei unseren Pferden.“
Hazels Putzzeug fest an mich gedrückt, ging ich über die Stallgasse zurück. Ich hatte versucht, die Ängste zu verdrängen, die nach dem Reaktorunfall bei uns allen aufgekommen waren. Irgendwie war es fast lebensnotwendig für mich, Abstand davon zu gewinnen, denn wenn ich an all die Kernkraftwerke und Wiederaufbereitungsanlagen dachte, von denen wir umgeben waren – in unserem eigenen Land, in Frankreich, in der DDR, in England –, hätte ich durchdrehen können vor Angst und hilflosem Zorn. Mikesch war kein Schwarzseher und Miesmacher, doch er hielt auch nichts davon, den Kopf in den Sand zu stecken. Er war einer von den wenigen Erwachsenen, die ich für wirklich verantwortungsbewußt hielt, und gerade weil ich ihn ernst nahm, traf mich seine düstere Prophezeiung besonders.
Während ich Hazel striegelte, wurde ich wieder ruhiger. Die Wärme ihres Körpers, die milden Augen und ihre sanfte Art hatten mich stets getröstet, wenn ich mutlos oder traurig war. Ich dachte plötzlich, daß es keinen Sinn hatte, sich Sorgen zu machen. Sicher, man mußte auf alles vorbereitet sein, mußte Gefahren klar erkennen und alles tun, was man nur tun konnte, um sie abzuwenden; doch sich ständig verrückt zu machen aus Sorge um die Zukunft, war sinnlos und verleidete einem nur die Gegenwart. Als ich das begriffen hatte, war mir wieder wohler.
Ich begann Hazels Box auszumisten, da tauchte Helge im Stall auf. Er begrüßte mich mit einem hingeworfenen „Servus“; so, als wäre ich nie fortgewesen. Er hatte seinen Walkman umgehängt; aus den Kopfhörern kam undeutliches Quäken.
In Helges Gefolge erschien Maja. Wir hatten uns gestern abend schon begrüßt, aber sie kam zu Hazels Box und sagte: „Hoffentlich hab ich sie richtig versorgt. Ihre Fesselgelenke sind nicht mehr so geschwollen. Die Umschläge haben ihr gutgetan.“ „Ich hätte mich selbst nicht besser um sie kümmern können“, erwiderte ich dankbar.
Maja strahlte wirklich „aus sämtlichen Knopflöchern“, wie Jörn das ausdrückte. Ich hatte sie noch nie so hübsch gesehen. Ihre Pfefferkuchenaugen glänzten, ihr Gesicht war braungebrannt, das dunkle Haar kräuselte sich über den Schläfen. Als sie lächelte, entdeckte ich zum erstenmal, daß sie wunderschöne weiße Zähne hatte, und wie reizvoll die Grübchen in ihren Mundwinkeln waren.
Ich wartete, bis auch Jörn und Matty in den Stall kamen. Erst dann begann ich Hazel zu tränken und zu füttern. Es war wichtig, daß alle Pferde zur gleichen Zeit ihr Futter bekamen, um Streit und Eifersucht unter ihnen zu vermeiden. Wie seit Jahr und Tag schleppten wir die Wassereimer durch die Gegend, denn Dreililiens Stall war altmodisch; hier gab es noch keine automatischen Tränken. Dann maßen wir die Haferportionen in der Futterkammer ab.
Die vertrauten Handgriffe und Geräusche, die gemeinsame Arbeit, das Geklapper der Eimer – wie sehr hatte ich das vermißt; so, als hätte es nie Augenblicke gegeben, in denen ich all das verwünschte: die Frühaufsteherei, die anstrengende Arbeit schon morgens vor dem Frühstück und der Schule, die tägliche Dusche, ohne die ich nicht unter die Leute gehen konnte, weil ich sonst wie ein wandelnder Misthaufen gerochen hätte.
Jörn, Matty, Maja und ich brachten die Stuten auf die Koppel, während sich Mikesch und Helge um die Jährlinge kümmerten. Dieser Zug über den Hangweg hinunter zur Spätsommerweide war die schönste von den morgendlichen Arbeiten, auch wenn es auf dem schmalen Pfad oft Drängeleien und Gerangel gab. Diesmal ging ich an der Spitze und paßte auf, daß Vroni nicht plötzlich losgaloppierte in ihrem Eifer, hinauszukommen auf die schöne Koppel mit dem Schatten der Baumgruppen und dem noch hohen, üppigen Gras; denn auf die Spätsommerweide durften die Stuten erst seit ein paar Tagen. Da gab es noch wunderbares Grünfutter für sie, während die Südweide inzwischen ziemlich kahlgefressen war.
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