Verantwortung für uns selbst und unsere Erde zu übernehmen, anstatt sich auf eine Blumenwiese zurückzuziehen und zu überlegen, welches Schicksal die Sterne uns auferlegt haben könnten.“
Matty war anderer Meinung. „Ich glaube, man muß jedem zugestehen, daß er seinen eigenen Weg geht – auch, wenn man diesen Weg für falsch hält“, erwiderte er. „Was dir richtig erscheint, muß für andere noch lang nicht richtig sein.“
„Ja, ja, laß uns nur weiter großzügig und verständnisvoll sein!“ sagte Jörn zornig. „Laß die einen ihre Wiederaufbereitungsanlagen und ihre Atomfabriken bauen, weil sie das für gut und vor allem für einträglich halten. Laß die anderen sich um ihren Guru scharen und an ihrem Seelenheil herumbasteln, laß andere wieder Menschen und Tiere quälen und ausbeuten oder Waffen hersteilen und auf der ganzen Welt stationieren. Jeder nach seinem Geschmack, wie? Und eines Tages fliegt dann ein Atomkraftwerk in die Luft, oder gewisse Leute kommen auf die Idee, die Waffen auch mal zu benutzen, die sie jahrzehntelang so trickreich gebastelt haben; das bringt’s dann ja voll!“
„Ich finde nicht, daß man das alles in einen Topf werfen kann“, versetzte Matty ruhig. „Es gibt schließlich noch Unterschiede zwischen den Anhängern eines Gurus und der Atommafia,“ „Außerdem kann man die Leute nicht dazu zwingen, Verantwortung für unsere Erde zu übernehmen und aufzuhören, an ihren eigenen Profit und ihr eigenes Wohl zu denken, wenn sie nicht wollen“, wandte Maja ein.
„Nein“, sagte Jörn, „das kann man nicht. Und von selber tun’s die meisten leider nicht. Das ist ja der Mist.“
„Bei so einem Gespräch kommt mal wieder echte Freude auf!“
Diese Bemerkung kam von Helge, und er brachte sie so trocken heraus, daß wir trotz des ernsten Themas lachen mußten.
Hinter dem Stall ging der Mond auf – eine schmale, leuchtende Sichel. Eine Eule rief aus dem Wald; Carmen behauptete, es wäre eine Schleiereule. Einer nach dem anderen zog einen Pullover oder eine Strickjacke an. Die schwülen Sommerabende und die warmen Nächte waren vorbei; schon lag eine Ahnung des kommenden Herbstes in der Luft. Man merkte es an den Gerüchen, die Erde und Pflanzen verströmten – nicht mild und süß wie im Sommer, sondern schon herb und würzig, mit einem Hauch von Vergänglichkeit.
„Jetzt werd’ er bald da sei, der Winter“, sagte Pauli schwer; so, als wären die Jahreszeiten menschliche Wesen, die aus der Ferne zu uns gewandert kamen, um Blumen und Früchte oder Schnee und Stürme zu bringen. Im Alter, so erklärte er, würde einem der Winter immer mehr verleidet; und ich konnte ihn gut verstehen, wenn ich daran dachte, wie lang mir selbst die Wintermonate vorkamen, in denen alles kalt und starr und kahl war, und wie sehr ich schon im Januar auf den Frühling wartete.
Doch noch blieb uns eine Sommerferienwoche, und ich beschloß, sie voll auszukosten. Ich wollte mit Hazel durch den Wald reiten und zwischen Apfelbäumen in der Hängematte liegen, wollte Mikesch mit den Ferienreitern helfen, morgens unter der Eiche frühstücken und abends, wenn Jörn von der Klinik zurückkam, mit ihm nach Törwang ins Gasthaus radeln und Eis essen.
Auch der Herbst hatte im Tal von Dreililien seinen Reiz – die kurzen, aber goldenen Tage mit unwahrscheinlich blauem Himmel, wenn die Bauern ihre Ernte einbrachten und auf den
Feldern die Kartoffelfeuer schwelten. Hier auf dem Land war der Herbst eine Zeit der Fülle und der Vorbereitung auf den Winter. Auch wir mußten dafür sorgen, daß die Tennen und Scheunen mit Heuvorrat für die Pferde gefüllt wurden; wir kauften Hafer bei den Bauern der Umgebung und lagerten Rettiche, Karotten, Mohrrüben und Runkelrüben in den Futterkammern. Haselnüsse wurden gesammelt, Pilze getrocknet; Kirsty verarbeitete Äpfel und Hutzelbirnen zu Dörrobst, und Carmens Eltern setzten Apfelmost in mächtigen Glasballons an, der wochenlang im Keller blubberte.
Doch in diesem Jahr würde alles anders sein. Es war das Jahr von Tschernobyl; ein Jahr, in dem die Pilze nicht gegessen werden durften, in dem das Heu und die Haselnüsse verstrahlt waren und das Obst erst untersucht werden mußte, ehe man es unbedenklich essen, verfüttern oder verarbeiten könnte.
Vielleicht war dieses Ereignis als Warnung für uns gedacht; ein kleiner Vorgeschmack auf das, was geschehen konnte, wenn wir nicht zur Besinnung kamen. Dieser Reaktorunfall, den die Fachwelt als „vergleichsweise harmlos“ bezeichnete, hatte seine Spuren in unserem Erdboden hinterlassen; Spuren, die noch nicht verwischt sein würden, wenn ich selbst und meine Generation längst tot waren. Andere Generationen hatten Kunstdenkmäler hinterlassen, kostbare Überreste einstiger Höchkulturen; wir hinterließen unverrottbare Plastikabfälle, verseuchtes Wasser, Atommüll. Vielleicht würden wir es sogar schaffen, diese Erde für Lebewesen unbewohnbar zu machen. War das unser Schicksal, daß wir uns selbst vernichten würden, weil wir unsere Grenzen nicht kannten, uns gegen die Natur stellten und zu anmaßend waren?
Es waren keine guten Gedanken für einen Sommerabend mit Freunden, doch in diesem Jahr fiel es mir nicht leicht, unbeschwert zu sein. Und wieder dachte ich, wie schon morgens im Stall, daß es wichtig war, die Gefahr zu erkennen und trotzdem nicht in einem Zustand der Angst zu verharren, sondern das Leben auszukosten.
„Nell träumt“, sagte Helge. „Von ihrer Gärtnerei wahrscheinlich. Aber es scheint kein besonders angenehmer Traum zu sein. Hat jemand Steine auf deine Glashäuser geschmissen?“
Ich fing Jörns forschenden Blick auf und schüttelte den Kopf. „Es gibt Schlimmeres“, sagte ich.
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