Ursula Isbel-Dotzler
SAGA Egmont
Das Haus der Stimmen
Copyright © 2000, 2018 Ursula Isbel-Dotzler und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711897065
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
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Der Brief kam an einem Freitag. Die krakelige Schrift auf dem Kuvert sah nach einer sehr alten Hand aus – nach jemandem mit schlechten Augen und zittrigen Fingern.
Absender und Poststempel versetzten meine Mutter in flatternde Aufregung. „Ach du lieber Himmel!”, sagte sie. „Bestimmt ist mit Tante Jule etwas nicht in Ordnung. Ich hab seit einer Ewigkeit nichts mehr von ihr gehört. Hoffentlich ist nichts passiert! Sie ist immerhin fast achtzig … “
Der Brief war an Familie Trotta adressiert. Eigentlich waren wir längst keine Familie mehr. Mein Vater lebte jetzt in der Schweiz, meine Schwester hatte vor einem Jahr die heimatliche Höhle verlassen und studierte in Heidelberg. Übrig waren nur noch Mama und ich.
Ich sah meiner Mutter über die Schulter, während sie las. Der Brief, auf liniertem Papier geschrieben, war in recht witzigem Deutsch abgefasst. Werthe Familie Trotta!, stand da. Förmudlich wird es Sie wunderlich erscheinen, dies Schreiben von unbekanntem Sender zu erhalten. Doch ich denke Ihr müsst wissen wie der Sachen steht mit Julen Timmerman …
So ging es drei Seiten lang weiter. Es war nicht immer leicht zu verstehen, aber am Ende begriffen wir doch, was die Absenderin uns mitteilen wollte.
„Ich hab’s geahnt!”, sagte meine Mutter und steckte den Brief geistesabwesend ins Kuvert zurück. „Gestern oder vorgestern hab ich noch geträumt, dass sie einen Schlaganfall hatte und allein in ihrem Haus lag.”
„Sie scheint aber noch ganz fit zu sein, jedenfalls körperlich.”
„Schon, aber das tröstet mich wenig. Nach allem, was ihre Nachbarin schreibt, leidet Tante Jule vermutlich an Arterienverkalkung oder Alzheimer.” Mama seufzte. „Sie müsste wohl in ein Seniorenheim, aber damit wird sie sicher nicht einverstanden sein.”
„Vielleicht lässt sich jemand finden, der sich um sie kümmert.”
„Hast du eine Ahnung, was so eine Pflege kostet? Um das auf die Dauer zu finanzieren, müsste sie ihr ganzes Anwesen verkaufen.” Sie warf mir einen ratlosen Blick zu. „Was machen wir nur, Sofie? Wir können sie nicht einfach sich selbst überlassen. Ihre Nachbarin schreibt, dass sie vergisst, Herdplatten auszuschalten, dass sie nachts Kerzen brennen lässt und im Unterrock durch die Gegend irrt.”
„Wir müssen hinfahren”, erwiderte ich. „Das ist mal der erste Schritt.”
Irgendwie hatte ich im Laufe der letzten Jahre fast unmerklich die Rolle der vernünftigen Tochter übernommen, während sich meine Mutter in schwierigen Situationen in hilflose Unselbstständigkeit flüchtete; dann war es meist so, als wäre sie die Jüngere von uns beiden.
„Ich habe nur noch sechs Tage Urlaub.”
„In einer Woche kann man viel erledigen”, sagte ich. „Wir nehmen mein Auto.” Mein Vater hatte mir zur bestandenen Fahrprüfung einen gebrauchten Wagen geschenkt, der schon ziemlich alt war.
„Aber du hast doch noch kaum Fahrpraxis! Und es ist eine riesige Strecke. Von hier bis Hamburg sind es neunhundert Kilometer; und dann müssen wir noch über die dänische Grenze und bei Sønderborg auf die Fähre.” Sie sah auf den Briefumschlag nieder, als wäre er eine Zeitbombe, die jeden Augenblick losgehen konnte.
„Wenn ich die Strecke gefahren bin, habe ich Fahrpraxis”, sagte ich. „Außerdem können wir uns abwechseln.”
„Können wir nicht. Du weißt genau, dass ich nur Automatik fahre; und es ist Jahre her, seit ich zum letzten Mal hinterm Steuer gesessen habe.”
Wie immer war alles ungeheuer kompliziert.
„Kannst du denn überhaupt hier weg?”, fragte sie. „Musst du nicht abwarten, bis sich das mit deiner Praktikumsstelle entscheidet?”
Ich schüttelte den Kopf. „Ich sitze seit drei Monaten nur herum und warte, was die ausbrüten. Natürlich brauchen sie in den Behinderten-Wohngemeinschaften dringend Hilfe, aber die Gelder werden ja ständig gekürzt. Das kann noch ewig dauern, bis sie entschieden haben, ob sie mich einstellen oder nicht. Vielleicht klappt es im Herbst ja schon mit dem Studienplatz für Behindertenpädagogik.”
„Am besten sagst du Bescheid, wo du zu erreichen bist, falls sich etwas tut.” Mama begann in ihrer Handtasche zu wühlen. „Wo hab ich nur mein Adressbuch mit den Telefonnummern? Oder meinst du, es hat keinen Sinn, Tante Jule anzurufen, wenn sie so verwirrt ist?”
„Ich glaube nicht, dass es allzu viel bringt. Aber versuchen kannst du’s ja mal.”
Sie gab die Idee, in Dänemark anzurufen, vorerst auf und wählte die Nummer einer Kollegin, um mit ihr wegen der Urlaubsvertretung zu verhandeln. Ich ging in den Abstellraum, überlegte, ob ich einen Koffer oder die Reisetasche mitnehmen sollte, und entschied mich für die Reisetasche.
Viel würde ich nicht brauchen, dachte ich; ein paar Klamotten, ein Buch, den Walkman, ein paar Kassetten. Den Regenumhang konnte ich auf den Rücksitz des Wagens legen.
Ich ahnte nicht, wie lange ich bleiben würde.
Die Fahrt war wie eine zweite, ins Endlose verlängerte Fahrprüfung; nur dass statt des Fahrlehrers und eines Prüfers meine Mutter mit schreckgeweiteten Augen neben mir saß. Bei jedem Überholmanöver klammerte sie sich am Griff der Beifahrertür fest, wobei sie die Luft hörbar einsog.
Wir übernachteten in einer Pension, in der das Bettzeug nach Rauch und Fußschweiß roch. Im Schlaf fuhr ich weiter, über Pisten, die durch eine Wüstenlandschaft ins Unendliche führten. Früh am Morgen weckte mich das Rauschen der nahen Autobahn. Ich fühlte mich wie gerädert.
„Noch einmal vierhundert Kilometer, fast so weit wie gestern!”, seufzte meine Mutter. „Und die ganze Strecke in acht Tagen wieder zurück.”
Der krönende Abschluss dieser Gewalttour war die Überfahrt mit dem Fährschiff oder vielmehr der Auftakt dazu. In einer Schlange von Fahrzeugen musste ich den Wagen über die Laderampe steuern und fast millimetergenau zwischen der Wand des Schiffsleibs und einem grünen Volvo einparken.
Meine Mutter stieß spitze Schreie aus. „Vorsicht! Nicht so nahe! Nein, um Himmels willen, pass auf den Außenspiegel auf!” Zwischen den Lastautos und Personenwagen stand ein Matrose gelassen wie ein Fels in der Brandung und wies mich mit winkenden Bewegungen und freundlichem Lächeln ein.
Schweißgebadet schleppte ich mich an Deck und ließ mir den Seewind um die Nase wehen. Schon verschwand die Küste hinter rauchfarbenen Dunstschwaden. Das Meer war schiefergrau unter den tief hängenden Wolken.
Meine Mutter kam mit einem Becher Kaffee. „Hier, trink das!”, sagte sie. „Das war ziemlich stressig für eine Anfängerin.”
„Ja; besonders, wenn einem jemand ständig wie verrückt ins Ohr kreischt. Das baut unheimlich auf.”
Je weiter wir aufs offene Meer kamen, desto rauer wurde der Wind. Wir setzten uns in den verräucherten Aufenthaltsraum, in dem es Bier, Zigaretten, Erbsensuppe und Kaffee zu kaufen gab. Neben ein paar deutschen Touristen waren vor allem Dänen an Bord. Der Klang ihrer Sprache weckte Erinnerungen in mir.
Wir waren vor dreizehn Jahren schon einmal in den Sommerferien auf der Füneninsel gewesen, um Tante Jule zu besuchen, damals noch vollzählig – meine Eltern, Sylvie, meine Schwester, und ich, gerade sechs Jahre alt.
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