Eine Weile standen wir am Gatter und sahen zu, wie sie sich im Gras wälzten oder sofort friedlich zu grasen begannen. Matty und Maja hatten die Arme umeinandergelegt. Eine von Dreililiens Katzen saß auf einem Zaunpfosten inder Morgensonne und putzte sich. Kleine weiße Wölkchen schwammen am blauen Himmel wie Schiffe mit geblähten Segeln. Das Gebirgsmassiv der Schlafenden Jungfrau lag im Dunst. Sepp mähte das Gras am Waldsaum mit der Sense.
Wir hatten noch zehn Tage Ferien – zehn kostbare Tage. Nur Jörn mußte am Montag wieder in der Rosenheimer Klinik arbeiten. Er hatte inzwischen seinen Zivildienst beendet, doch schon im Frühsommer hatte man ihm im Krankenhaus angeboten, mindestens für ein weiteres halbes Jahr als Hilfspfleger zu arbeiten, da es zu wenig Personal gab; und Jörn hätte zugesagt, um die Zeit bis zum Studium zu überbrücken. Er hatte sich jetzt in München um einen Studienplatz in Veterinärmedizin beworben. Die Chancen, ihn zu bekommen, standen jedoch wegen seiner mittelmäßigen Abiturnoten nicht gut, und er rechnete damit, noch mindestens ein Jahr auf einen Studienplatz warten zu müssen.
Natürlich hätte Jörn auch auf Dreililien arbeiten können, doch er und sein Vater waren selten einer Meinung, wenn es um das Gestüt ging. Herr Moberg war außerdem nicht bereit, seinen Söhnen mehr als ein kleines Taschengeld für ihre Arbeit zuzugestehen. Im Krankenhaus bekam Jörn immerhin ein richtiges Gehalt, seit er seinen Zivildienst beendet hatte, und fühlte sich damit ausgesprochen reich.
„Wir wollten heute zum Waldweiher reiten“, sagte Matty. „Kommt ihr mit?“
„Klar“, rief ich. „Ich möchte bloß vorher noch frühstücken.“
Jörn hatte sich gebückt, um Diana zu streicheln, die gefleckte Jagdhündin. Nachdem er jetzt ein paar Tage fort gewesen war, wich sie nicht mehr von seiner Seite. Der Blick, mit dem sie zu ihm aufsah, war so voll hingebungsvoller Liebe, daß einem das Herz dabei schmelzen konnte.
„Am besten nimmt jeder einen Picknickkorb mit“, schlug Jörn vor. „Dann können wir über Mittag bleiben und den Tag richtig ausnützen. Wer weiß, wie oft wir in diesem Jahr noch baden können.“
Mein Vater war schon zur Arbeit gefahren, als ich zum Kavaliershäusl kam. Kathrinchen saß auf der Bank unter der Eiche, bekleckerte sich mit Marmelade und fütterte den Teddybären, den ich ihr vom Wiener Flohmarkt mitgebracht hatte. Auch ein Lätzchen hatte sie ihm umgebunden. Seine Schnauze war schrecklich verschmiert.
Herr Alois, Kirstys schlappohriger Hund, kam unter dem Tisch hervor und begrüßte mich schwanzwedelnd. Nur Kirsty war nirgends zu sehen.
„Hallo, Katharina Erdschwein!“ sagte ich und zerzauste meiner kleinen Schwester das ohnehin schon strubbelige Haar. „Wo ist Kirsty?“
„Hallo, Nello!“ Sie nannte mich immer Nello; keiner wußte, warum, Kathrinchen konnte jetzt schon recht gut sprechen, war aber ziemlich redefaul und beschränkte sich meist auf ein paar dürre Worte.
„’neingangen“, sagte sie auch diesmal so knapp wie möglich und deutete mit ihrem marmeladenbeschmierten Zeigefinger auf Kirstys Töpferwerkstatt hinter dem Haus.
Ich ging in die Küche, setzte Teewasser auf und holte Obst aus der Speisekammer. Als ich zum Tisch zurückkam, kletterte Kater Carlo durch das offene Küchenfenster herein und strich mir schnurrend um die Beine. Hinter den Scheiben nickten die goldenen und samtbraunen Köpfe der Sonnenblumen.
Ich streichelte Kater Carlo, bis mein Teewasser kochte, und er folgte mir in den Garten, als ich das Frühstückstablett zum Tisch unter der Eiche trug. Kathrinchen erzählte im Telegrammstil von einem Ausflug, den sie am Wochenende mit Vater und Kirsty zu einem Volksfest in Frasdorf gemacht hatte. Offenbar waren sie mit einem Ding gefahren, „wo die Stühle fliegen“. Sie hatte auch auf Ponys reiten dürfen, doch die waren nur „sooo wünzig“ gewesen – sie zeigte die Größe mit dem Marmeladenlöffel — und immer im Kreis herumgetrottet. Für Kathrinchen, die schon eine Menge Reitstunden auf Hazels Rücken hinter sich hatte, war das natürlich lächerlicher Firlefanz.
Ich packte Tomaten, Äpfel, Brote und eine Thermoskanne voll Tee in den Picknickkorb. Dann kam Kirsty aus ihrer Werkstatt. Sie war gestern abend müde gewesen und bald schlafen gegangen, nachdem ich heimgekommen war. Jetzt setzte sie sich neben Kathrinchen auf die Bank und ließ sich von meinem Job in Hobendoblers Gärtnerei erzählen, deren Besitzerin Birgit eine alte Freundin von ihr war.
„Birgit hat mir vor ein paar Tagen geschrieben“, sagte sie. „Ihr scheint euch gut verstanden zu haben. Und die Arbeit dort hat dir offenbar Freude gemacht?“
Ich nickte. „So, wie Birgit ihre Gärtnerei betreibt, gefällt’s mir. Sie hat eine echte Beziehung zu ihren Pflanzen. Ich hätte nie gedacht, daß das so ein schöner Beruf sein kann.“ Ich setzte mich ihr gegenüber, den Picknickkorb auf dem Schoß. „Weißt du, ich hab ja noch bis vor kurzem keinen blassen Schimmer gehabt, was ich mal werden soll. Meinst du, Gärtnerin wäre was für mich?“
„Warum nicht?“ sagte Kirsty nachdenklich. „Ich glaube, du bist jemand, der mit lebendigen Dingen arbeiten sollte. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß du irgendwo von früh bis abends in einem Büro oder einer Bank hinter dem Schreibtisch sitzt.“
„Herrje, ich mir auch nicht!“ sagte ich und schüttelte mich.
„Natürlich hat so eine Arbeit im Freien auch ihre Schattenseiten. Man muß bei Wind und Wetter draußen sein; und die ständige Bückerei ist auch kein Vergnügen. Aber Birgit ist glücklich mit ihrem Beruf. Sie hat ihren eigenen Laden und ihre exotischen Pflanzen und Orchideen, die sie das ganze Jahr über verkaufen kann. Das mit der Freilandgärtnerei ist nur ein zusätzliches Geschäft für sie.“
„Bloß sind diese beheizten Gewächshäuser schrecklich teuer, das hat sie mir erzählt“, erklärte ich. „Und ein großes Grundstück braucht man natürlich auch...“
„Grund und Boden sind hier in unserer Gegend bestimmt billig zu pachten“, meinte Kirsty. „Aber warten wir’s ab. Mach erst mal deine Schule fertig und erkundige dich, wie so eine Ausbildung aussieht. Ich glaube, es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Du könntest einfach eine Gärtnerlehre machen oder Gartenbau studieren.“
Ich seufzte leicht. Noch ein paar Jahre büffeln und Prüfungen ablegen – eigentlich hatte ich vorerst einmal die Nase voll davon. Mit einem Lächeln sagte Kirsty: „Genieß erst mal deine Ferien. Wollt ihr zum Baden?“
Erst da fiel mir wieder ein, daß Jörn, Matty und Maja auf mich warteten. „He, ich muß los!“ rief ich und rannte ins Haus, um mein Badezeug zu holen.
Sie hatten die Pferde schon von der Koppel geholt – Hazel, Katama, Eileen und Nofret. Diana sprang zwischen den Stuten herum und bellte, voller Freude über den bevorstehenden Spaziergang. Wir ritten langsam und gemütlich am Waldrand entlang, über Feldwege und stopplige Spätsommerwiesen, durch einen seichten Bachlauf, in dem noch Brunnenkresse wuchs und Steine wie Gold glänzten. Schmetterlinge gaukelten über die schon spärlicher blühenden Wiesenblumen, als würde der Sommer ewig dauern; dieser Sommer, so sehnsüchtig erwartet und wie immer viel zu kurz.
Der Waldweiher lag still und verträumt in der Morgensonne. Libellen surrten durchs Schilf, und in den Weidenbüschen hüpften Zaunkönige auf der Suche nach Insekten, die es hier in Hülle und Fülle gab – zu viele für unseren Geschmack. Denn wir hatten uns noch nicht richtig ausgezogen, da stürzten sich schon Dutzende von Mücken freudig auf uns wie eine Schar blutrünstiger Vampire. Zum Glück hatte Maja ein Fläschchen Nelkenöl eingesteckt, mit dem wir uns betupften, bis wir in eine betörende Duftwolke gehüllt waren. Diana nieste wie verrückt, die Mükken aber ließen uns in Ruhe.
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