Noch immer weilte Stadler als Gast in Operchis Haus. Freundschaft verband die beiden Männer.
An einem herrlichen Herbstnachmittag raffte sich der Schweizer auf, um einen Rundgang durch Ispahan zu machen. Von den breiten Alleen bog er ab in ein Gewirr schmaler Gassen und enger Strassen, die von einer bunten Volksmenge belebt waren. Durch dieses Menschengewühl kam ihm plötzlich eine aus zwanzig hochbeladenen Kamelen und wohl ebensovielen Mauleseln bestehende Karawane entgegen. Die Tiere trotteten im langen Zug gemächlich eines hinter dem anderen. Die Treiber schrieen, die Menge wich scheltend zur Seite; es entstand ein fürchterliches Gedränge und ein ohrenbetäubender Lärm. Der junge Uhrmacher stand diesem unerwarteten Ereignis ratlos gegenüber, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er unter die Hufe eines Dromedares geraten. Im letzten Augenblick fühlte er sich zurückgerissen. Der Mönch stand neben ihm.
Stadler sagte lächelnd: „Ehrwürdiger Pater, Euch hat mir der Himmel gesandt!“
Dieser entgegnete mit einer seltsamen Betonung: „Ich glaube auch, mein Freund, und hoffe, dass Ihr den Wink Gottes richtig verstehen werdet.“
Er geleitete ihn nach den Bazaren hinüber, die ein ganzes Stadtviertel ausfüllten. Hier herrschte eine wohltuende Kühle; denn die Strassen waren zum Schutz gegen die sengenden Sonnenstrahlen überdacht. Alle Herrlichkeiten des Morgenlandes fand man hier aufgestapelt. Ein Gewirr fremder Sprachen schlug an das Ohr der beiden Männer. Neben Persern hatten Armenier, Georgier, Türken, Tataren, Juden, Afghanen und Abendländer die Erzeugnisse ihrer Heimat ausgestellt. Besonders stark waren die Inder vertreten, von denen derzeit mehr als zwölftausend in Ispahan lebten.
Der Portugiese geleitete seinen Freund aus dem bunten Treiben heraus zum Maidan; das war ein von einer Doppelreihe prächtiger Bogenhallen im Halbkreis umgebener Platz, wie Stadler ihn in einer solchen Ausdehnung nie zuvor gesehen hatte. Die Gewölbe dienten den verschiedensten Handwerkern – jede Zunft streng von der anderen getrennt – als Werkstätten und Verkaufsräume. Juweliere und Goldschmiede verrichteten dort ihre kunstvollen Arbeiten und boten ihre Kostbarkeiten feil. Seiden- und Baumwollzeuge wurden gewebt, Teppiche geknüpft, Waffen aus Eisen, Stahl und Bronze geschmiedet; Schneider, Schuhmacher und Sattler gingen ihrem Gewerbe nach; Holzschnitzer, darunter Künstler in der Herstellung wundervoller Pfeifenköpfe, Lackmaler, Glasbläser übten ihre Tätigkeit vor aller Augen aus. Dann folgten die Tzerra, die Wunden heilten, chirurgische Eingriffe und vor allem die Beschneidung vornahmen. In ihrer Nähe weilten die Dellaks, die den Männern den Kopf kahl schoren und den Bart pflegten. Aus Furcht vor Ansteckung brachte jeder Kunde sein eigenes Messer mit. Besondere Stände hatten auch die Schriftkundigen und die Wahrsager. Endlich befanden sich da noch Händler mit Lebensmitteln, Früchten, Gemüsen, sowie Fleischer und Bäcker.
Stadler verwirrten all die neuen Eindrücke, und die lebhafte Art, wie der Handel vor sich ging. Rosario bemerkte es und führte ihn zum Südteil des Maidans, wo der Riesenbau der Mestrid Mehedi Schebesemân Moschee im Rohbau vollendet stand, Irans grösstes und schönstes Gotteshaus. Seit Jahrzehnten wurde schon daran gebaut. Noch immer sah man zahlreiche Handwerker beschäftigt; denn nun begann die Arbeit der Bildhauer, und auch im Innern der Kirche gab es vollauf zu tun.
Auf einer hinter Buschwerk und Bäumen versteckten Bank liessen sich die beiden Männer nieder. Der Pater sprach: „Wohin Ihr kamt, habt Ihr fleissige, regsame Menschen gesehen, vom Künstler bis zum armseligen Treiber. Und was tut Ihr, der Ihr zu Grossem auserlesen seid!“ Die Augen des Mönches richteten sich auf Stadler und schienen bis in seine tiefste Seele zu dringen. „Haltlos lasst Ihr Euch treiben, Ihr versinkt in Sünde und in eine Eurer unwürdige Lebensweise. Rafft Euch auf! Vergesst nicht, weswegen Ihr hergekommen seid! Operchi nannte Euch einen unübertrefflichen Meister Eures Gewerbes; nun wohl, so liefert den Beweis Eures Könnens! Schafft Werke, die Euren Namen unvergänglich machen!“
Der Uhrmacher gedachte der Stunde, als er in Reval den Totentanz der Petrikirche bewunderte und so hohe Pläne fasste. Wie war es nur möglich gewesen, dass er im Sinnesrausch alles vergessen konnte – – selbst Barbara!?
Rosario fuhr im Sprechen fort: „Haltet Euren Lebenswandel makellos, so wird auch Eure Kunst sich rein und edel gestalten. Schafft nicht um des Geldes oder um des Ruhmes willen, sondern lasst es eine Schöpfung werden, die aus dem tiefsten Drang Eures Herzens heraus entsteht, die Ihr Eurem Gott in Dankbarkeit und Ehrfurcht widmet.“
Stadler erhob sich. In seinen Augen brannte das Feuer edler Begeisterung. Er antwortete: „Ehrwürdiger Pater, es soll sein, wie Ihr sagtet. Auch ich will der Menschheit die Vergänglichkeit alles Tun und Treibens auf Erden in meinem Werke zeigen, will ihr Gewissen wachrütteln, wie Ihr meines erweckt habt. Ich werde die Menschen daran erinnern, dass sie sterblich sind, ob König oder Bettler; dass in jener Welt nicht Amt noch Würden zählen, sondern nur unsere guten Taten!“
Ein Händedruck besiegelte das Gelöbnis.
In diesem Augenblick ertönte eine wilde Musik von Heerpauken, Schalmeien und Kerenei-Trompeten. Die Menschenmenge räumte fluchtartig den weiten Platz und staute sich in den Bogengängen.
An der Nordseite des Maidans befand sich der Palast des Schahs, inmitten ausgedehnter Gärten, umgeben von einer hohen Mauer.
Die breiten Torflügel wurden aufgerissen und heraus sprengte Abbas, der Grosse geheissen, auf schneeweissem Zelter. Ihm zur Seite ritt sein Schwager und Vertrauter, Isachan, der General der Bogenschützen. Ein glänzendes Gefolge begleitete den Herrscher.
Stadler erblickte zum erstenmal den Schah. Er war eine achtunggebietende Erscheinung. Stolz und aufrecht sass er im Sattel, trotz seiner sechzig Jahre. Der Schweizer konnte dem Mönch seine Bewunderung nicht verhehlen.
Der Portugiese entgegnete: „Abbas ist ein Mann von eiserner Willenskraft. Was glaubt Ihr, welch übermenschliche Anstrengung es ihn kostet, der Menge und seinen Würdenträgern vorzutäuschen, er befinde sich noch im Vollbesitz seiner Kraft? Er ist in Wahrheit siech und verfallen; die Tage seines Erdenwallens sind gezählt.“
Ungläubig schaute der Uhrmacher seinen Begleiter an: „Der Schah sollte ein todkranker Mann sein?“
„Sprecht leise, mein Lieber, und was ich Euch heute sage, bleibe ein Geheimnis zwischen uns. Vielleicht ist es Euch bekannt, dass wir Mönche Kenntnisse in der Heilkunde besitzen. Ich habe darin einen gewissen Ruf erlangt und bin nicht nur als Dolmetscher im königlichen Schloss tätig, sondern auch Abbas’ Leibarzt. Sind wir allein, so lässt er die Maske fallen.“
„Um was für eine Krankheit handelt es sich?“
„Es ist eine Krankheit der Seele, schlimmer als alle körperlichen Gebrechen. Ihn quält sein Gewissen! Blutschuld auf Blutschuld hat er auf sich geladen. All seine ehrgeizigen Pläne sind nun erfüllt: das verfallene Perserreich erlangte die alte Grösse zurück. Alle Feinde und ihre Sippen liess er ausrotten, aber eine furchtbare Angst, selbst durch Mörderhand zu sterben, lässt ihn überall Gegner erblicken, die ihm nach dem Leben trachten. Diese entsetzliche Furcht ist es, die ihn zu immer neuen Schreckenstaten treibt. – Nacht um Nacht wechselt er die Schlafstätte; nur die erprobtesten seiner Würdenträger werden als Wächter gewählt, und nie darf das Licht verlöschen. Er glaubt im Dunkeln Gespenster zu sehen. Oft geht er bis zum Morgen ruhelos auf und ab; dann wieder schreit er plötzlich wie ein todwundes Tier, zieht sein Schwert und kämpft mit unsichtbaren Dämonen. Er findet keine Ruhe; Alpdrücken und schauerliche Träume suchen ihn heim. Kein Schlafmittel will helfen.“
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