Eine lange Mauer tauchte auf. Sie umfriedigte einen weiten Platz und war von vielen armselig gekleideten Menschen umlagert.
Operchi las das Erstaunen in Stadlers Blicken: „Ihr möchtet wissen, welche Bewandtnis es mit dieser Stätte hat? Hier wurde unseres grossen Schahs Lieblingssohn, Sefi Myrsa, ermordet.“
„Ermordet?“ – Stadler konnte den Sinn dieser Worte nicht sogleich erfassen. Inmitten dieser Wunderwelt sollte der Mord zu Hause sein?
„Freilich, ein Mann niederer Herkunft, namens Bebutbek, hatte ihn erstochen.“
„Ja, warum denn?“
„Weil der grosse Abbas es befahl.“
„Sein eigener Vater?“
„Jawohl, sein eigener Vater. Mächtige Chane, mit denen der Prinz in Feindschaft geraten war, verleumdeten ihn. Sie behaupteten, er strebe nach der Krone. Im Jähzorn erteilte der Schah den Befehl.“
„Ohne den Sohn anzuhören?“
„Abbas fürchtete um sein Leben. Er witterte überall verborgene Feinde, da er selbst durch Brudermord auf den Thron gelangt war.“
„Durch Brudermord?“
„Nun ja. Er liess Ismael dem Dritten von seinem Barbier beim Rasieren die Kehle durchschneiden, aber dieser hatte kaum ein besseres Schicksal verdient; denn acht Monate zuvor säbelten auf seine Veranlassung als Frauen verkleidete Chane den ältesten Bruder, Emir Hemse, im Harem nieder.“
„Und was geschah mit Bebutbek?“
„Er wurde zur Belohnung für seine Tat zum Statthalter von Caswin und Kesker befördert. Allzulange sollte er sich dieser Gnade allerdings nicht erfreuen; denn wenige Jahre später zwang Abbas ihn, seinem eigenen Sohn den Kopf abzuschlagen, damit er spüre, was es heisst, auf solche Weise sein Kind zu verlieren. Bald darauf wurde er selbst umgebracht, nachdem schon zuvor alle Verleumder bei einer Festtafel zu Caswin vergiftet worden waren.“
Stadler fand lange keine Antwort. Mit Entsetzen erkannte er, wie nahe in diesem Lande Paradies und Hölle nebeneinander wohnten. Endlich fragte er: „Und was treiben diese Bettler?“
„Sie finden hier eine Freistätte, wo ihnen Speise und Trank verabreicht wird. Abbas hat nämlich die im blinden Zorn begangene Tat bald bitter bereut. Er trauert heute noch um Sefi, den er liebte wie keines seiner Kinder. Er sucht auf diese Weise sein Gewissen zu beruhigen.“
Stadlers leicht empfängliches Gemüt ward aufs tiefste erschüttert. Hatte er vorher das helle Leuchten des Mondes wie zauberhaften Silberschein empfunden, so dünkte es ihn jetzt wie ein gespenstischer Schleier. In den dunklen Schatten der Häuser und Bäume glaubte er dämonische Wesen zu erblicken. –
Inmitten eines grossen Gartens, der an Schönheit alle bisher geschauten übertraf, stand ein wundervoller Palast. Stadler wollte die trübe Stimmung verscheuchen; er sagte: „Glücklich müssen die Menschen sein, die hier wohnen dürfen.“
Operchi antwortete: „Ich möchte nicht mit ihnen tauschen. Dort lebt die Witwe des ermordeten Myrsa Sefi mit ihren beiden Söhnen. Auf Schritt und Tritt sind sie von Spähern umgeben; alle Tore werden mit Wachen besetzt, keinen Schritt dürfen sie ausserhalb der Umzäunung des Parkes tun.“
Den Uhrmacher fröstelte.
In der Ferne tauchten schlanke Türme und wuchtige Kuppeln, prächtige Bauten und Mauern auf. Dort lag das Ziel, nach dem er sich solange heiss gesehnt hatte, das er gestern noch für eine Märchenwelt hielt. Heute sah er die Dinge mit anderen Augen an. Eine bange Ahnung beschlich ihn. Wie sollte er mit seinem schlichten, geraden Sinn sich in dieser Umwelt zurechtfinden?
Er war froh, als der Morgen nahte, die Sonne ihre goldenen Strahlen zur Erde sandte und aller Spuk der Nacht entschwand.
*
Unweit von Ispahan sahen die Reisenden einige Reiter auf sich zukommen. Es waren ein Freund Operchis, ein reicher persischer Kaufherr, und einige seiner Diener. Die Begrüssung geschah mit dem ganzen Gefühlsüberschwang der Orientalen. Immer neue Reitergruppen sprengten heran, darunter Armenier und, was Stadler besonders in Erstaunen setzte, auch einige Holländer, Engländer und Franzosen. Alle wetteiferten, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Dicht vor den Toren gesellte sich ein besonders prunkvoll gekleideter Trupp zu ihnen. Es war der Poslanik Alexei Sawinowitz, der Gesandte des Zaren, mit seiner Begleitung. Zwischen ihm und Operchi schien ein besonders herzliches Freundschaftsverhältnis zu bestehen. Am höchsten stieg aber Stadlers Verwunderung, als auch ein Mönch den Kaufmann bewillkommnete. Der Pater war ein rüstiger Mann von einigen dreissig Jahren. Er wandte sich an den Schweizer und sprach: „Ich heisse Joseph à Rosario. Die Güte des grossen Abbas hat es uns Augustinern gestattet, in den Mauern seiner Stadt unser Kloster zu errichten. Ich versuche mich seines hohen Schutzes dankbar zu erweisen, indem ich ihm als Übersetzer diene. Solltet Ihr in irgendeiner Lage einmal des Rates oder Beistandes bedürfen, so erinnert Euch meiner.“
„Ehrwürdiger Pater, gern werde ich von Eurem hochherzigen Angebot Gebrauch machen, falls es die Umstände erfordern sollten.“ Dankbar drückte Stadler die Hand des portugiesischen Mönches. Seine Worte taten ihm wohl. Sie waren aus hilfsbereitem Herzen gesprochen. –
Fürsten gleich zogen Operchi und Stadler in Ispahan ein. In den Strassen drängten sich zahllose Schaulustige. Der Uhrmacher erkannte mit Staunen, welches Ansehen sein Freund genoss.
Durch breite Alleen führte der Weg; zu beiden Seiten standen palastähnliche Bauten inmitten grosser Gärten. Behäbige Herren, mit langen, wohlgepflegten Bärten, gingen vorüber. Auf dem Kopf trugen sie den Mendil: grosse, dicke, von Seide oder Kattun hergestellte Binden, die übereinandergewunden ihr Haupt bedeckten. Andere wieder hatten rauhe Mützen aufgesetzt, innen und aussen mit krausen bucharischen Schaffellen überzogen. Alle waren in lange, bis auf die Waden reichende Röcke gehüllt, die, meistens mit farbenfreudigen Blumen bedruckt, aus bunter Seide oder Kattun bestanden. Wohlhabende Leute liessen ihre Kleidung von Künstlern bemalen. Fast alle trugen grüne Strümpfe. – Frauen und Mädchen sah er vorüberschreiten, mit langen, vom Kopf bis zu den Füssen herunterhängenden weissen Tüchern bedeckt, die nur zwei Augenschlitze offenliessen.
Endlich ward Operchis Faktorei erreicht. Der Schweizer bewunderte die ausgedehnten Lagerplätze, Schuppen und Häuser, die dazugehörigen zahlreichen Bedienten und die vielen Lasttiere: Kamele, Dromedare, Pferde, Esel und Maulesel.
Etwas abseits stand inmitten eines ausgedehnten, sorgfältig betreuten Gartens ein grosses, vornehmes Gebäude. Hier wohnte der Handelsherr. An reichgedeckter Tafel wurde gespeist. Schöne Sklavinnen, in leichte Gewänder gehüllt, bedienten. – –
Wie betörende Träume verrannen Tage und Nächte. Rausch, Pracht, Wohlgerüche und all der ungekannte Zauber des Morgenlandes hielten Stadlers Sinne umfangen.
Überall wurde er mit überschwenglicher Liebenswürdigkeit aufgenommen. Sowohl die Perser als auch die in Ispahan ansässigen Armenier wetteiferten, ihm zu Ehren Feste zu veranstalten. Doch wie so anders verliefen diese Abende als jene in Reval! Hier fanden Kunst und Wissenschaft keine Stätte; herrliche Speisen und schwere Weine bildeten den Auftakt; Sklavinnen, oft im kindlichen Alter, füllten mit sinnberückenden Tänzen die Nächte.
Die ortsansässigen Europäer hatten Stadler anfangs mit Misstrauen betrachtet; als sie aber feststellten, er wolle nur seinem Handwerk nachgehen und kümmere sich nicht um kaufmännische Dinge, fand er auch dort überall offene Häuser.
Wochen vergingen. Nervenaufreizende Nächte, verträumte Tage. Junge Sklavinnen, stets ein verheissungsvolles Lächeln im Gesicht, waren seine Dienerinnen. Alle Genüsse dieser zauberhaften Umwelt kostete er aus. Sie lähmten seine Willenskraft und Schaffensfreude.
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