Sie hatte die Hand auf ihr Herz gelegt. Sie kam auf ihn zu. „Hier“, wiederholte sie, „hier bist nicht nur du feige. Hier sind wir alle feige. Oskar natürlich und Anna, seine Gattin, und vielleicht sogar Tante Clementine. Und vor allem ich.“
„Also schön, ich bin feige“, antwortete Hans Adalbert leise, „ich gebe es zu. Wenn ich über einen Graben rüber soll und weiss nicht, wie breit er ist, dann kriege ich Herzklopfen ...“ Er machte eine Pause. Denn Kuntze, der Diener, kam abräumen. Sie gingen in die Halle hinaus und wanderten dort unter der Sodomitischen Flucht auf und ab, vorbei am Porträt des alten Oskar von Hagendörp und am Bilde seiner Frau, der geborenen Schwalenbeeck, und am Bilde des Freiherrn Herbert von Hagendörp, des einzigen, der nie eine Uniform getragen hatte, sondern ein Philosoph gewesen war, wie man in der Familie sagte, in Wirklichkeit ein wissenschaftlicher Landwirt, ein Anhänger von Albrecht von Thaer. Sie wanderten Arm in Arm und sprachen leise weiter, weil an jeder Tür, weil oben im Gang einer stehen konnte und zuhören oder vielleicht hinter den Säulen, hinter denen sie als Kinder oft Versteck gespielt hatten. Sie erinnerten sich genau, wie oft sie den Gesprächen der Grossen zugehört hatten, wenn sie unverständliche, gefährliche und seltsame Dinge untereinander beredeten, und sie hatten geschworen, dass sie später mit ihren Geheimnissen und ihren Schwierigkeiten vorsichtiger umgehen würden. Hans Adalbert also flüsterte:
„Natürlich, wenn sie hier ist, kann ich sie finden. Sie kann ja nur im Schwarzen Lamm oder im Waldfrieden oder gleich hier bei der alten Morgenstern wohnen. Ich kann sie also finden, falls sie da ist. Aber damit ist es ja nicht getan. Es ist da etwas anderes ... Meinst du nicht, wenn es erst einen Knacks gegeben hat, dass man es dann besser ganz wegschmeisst?“
„Hm“, sagte Juliane, „vielleicht.“
„Ich habe natürlich an Mutter gedacht“, fuhr Hans Adalbert fort, „weisst du noch, die wunderbare Sevresschüssel mit der Hirtin? Man konnte den Sprung kaum sehen, so hauchdünn war er. Aber sie schmiss das Ding doch weg.“
„Verstehe“, nickte Juliane, „du willst also wissen, ob man so eine Sevresschüssel wegschmeissen muss oder soll. Weisst du, Mutter war sehr vorschnell. Sie hat nur niemals zugegeben, wenn sie was gereut hat. Aber ich glaube, sie hätte ganz gern manchmal wieder was Weggeschmissenes zurückgeholt. Wenn es beim ersten Knacks immer zu Ende wäre, dann könnte wahrscheinlich kein Paar auf dieser Erde zusammenbleiben.“ Hans Adalbert lächelte ein wenig hochmütig oder nachsichtig. Juliane hatte ja sicher recht. Aber bei ihm war die Sache doch ein bisschen anders.
Er versuchte der Schwester klarzumachen, dass er eine noch nie dagewesene Art von Liebe empfunden hatte. Dass er bis vor kurzem bereit gewesen war, alles dafür herzugeben, was er hatte. Beruf also, Ruf und Familie. Wenn man aber so stand, dann durfte es doch keine Missverständnisse und Reibereien geben wie zwischen anderen Menschen. Und wenn es doch Missverständnisse gab, dann sollte man eben ein Ende machen. Und noch eines sollte Juliane wissen, etwas ganz und gar Verrücktes: als er annahm, dass jene Frau nicht nach B. kommen würde, da glaubte er, dass er unmöglich noch vierzehn Tage ohne sie würde weiterleben können. Er glaubte, dass er überhaupt niemals würde leben können, wenn er nicht mit ihr zusammen war. Aber nun, da er ahnte, dass sie da war, nun fing er an zu verstehen, dass er nicht würde weiterleben können, wenn er mit ihr zusammenblieb. Bitte, war das nicht ganz und gar irrsinnig? Hatte Juliane jemals so etwas Blödes, Verrücktes, Unsinniges, Albernes gehört?
Juliane war einigermassen erschrocken. Sie wusste auch wirklich wenig zu raten. Sie wusste nur, dass es viel ernster war, als sie gedacht hatte. Aber im Augenblick konnte sie nichts weiter sagen als: „Na, so blöd und verrückt ist das gar nicht, mein Junge. Das ist nur so irrsinnig ... wie eben jede Sache, die mit der Liebe zusammenhängt. Kein Mensch wird damit fertig, und doch lässt keiner die Finger davon. Was soll dabei herauskommen?“
Hans Adalbert war recht enttäuscht. Wenn sogar Juliane nichts Besseres wusste, dann konnte ihm wirklich niemand einen Rat geben.
Der Regen hatte nachgelassen. Hans Adalbert beschloss, seine Meldung beim Bataillonskommandeur zu machen. Er zog sich die Uniform an und fuhr in die Stadt. Er hatte den halboffenen Landauer genommen, sass also beinahe versteckt hinter den Wagenscheiben. Aber die Einwohner von B. hatten Augen, die durch solche halben Wände drangen, besonders an Regentagen, an denen wenig Menschen auf den Strassen waren. So wurde Hans Adalberts Fahrt zum Garnisonskommandanten von tausend Augen beobachtet, und unter diesen tausend Augen waren auch die Augen von Frau Morgenstern (Stella matutina). Sie erzählte die wichtige Tatsache ihrer Pensionärin, Fräulein Garberding, und auf diese Weise geschah es, dass auf der Rückfahrt Helene Garberding am Fenster stand, den Wagen den Schlossweg heraufkommen sah, sich weit aus dem Fenster bog und winkte. Frau Morgenstern fand dieses Benehmen recht merkwürdig. Winken durften junge Damen doch nur dem regierenden Fürsten und nicht einem Husarenleutnant. Und noch merkwürdiger war natürlich, dass der Husarenleutnant dieses Winken beantwortete. Ja, Hans Adalbert von Hagendörp stand in seinem Wagen auf, wandte sich um und winkte zurück. Er liess sogar den Wagen einen Augenblick halten und stieg aus.
Helene Garberding lief die Treppen hinunter, aus dem Haus, aus dem Garten. Aber als sie auf der Strasse angekommen war, verschwand Hagendörp in seinem Landauer, die Pferde zogen an, der Wagen bog um die Ecke.
Der Regen hatte gerade besonders heftig eingesetzt. Die Garberding stand vielleicht eine Minute erstarrt und erstaunt auf der Strasse. Aber das genügte. Sie war ganz nass, als sie hereinkam. Das dünne Sommerkleid klebte an ihren Schultern. Ihre Augen waren rot, als hätten sie einen Sturzregen von Tränen vergossen. Die alte Morgenstern kam ihr mit vorwurfsvollem Kopfschütteln entgegen. Sie sagte: „Aber ... aber ... in diesem Regen hinaus ...“
Die Garberding sah sie an, versuchte etwas zu sagen, schüttelte wie eine Stumme verzweifelt den Kopf.
Frau Morgenstern legte ihr die Hand auf das nasse Haar. „Aber Kind“, murmelte sie, „was ist denn mit Ihnen, Kindchen? Sie kennen wohl den jungen Baron Hagendörp ..? Na, sprechen Sie doch.“
Jetzt endlich nickte Helene Garberding und flüsterte: „Natürlich kenne ich ihn.“
Sie entzog sich vorsichtig der schirmenden Hand ihrer Pensionsmutter, ging ohne weitere Erklärungen in ihr Zimmer und schloss sich ein. Man hörte nichts mehr von ihr. Sie lag nämlich, den Kopf in die Kissen gepresst, und weinte, weinte, bis sie schliesslich unter dem Tropfen des Regens einschlief. Und wieder träumte sie. Aber dieses Mal floh sie, die Nymphe mit der Marmorhaut, nicht vor den Hunden der Hagendörps, sondern sie rannte atemlos mit den Hunden zusammen hinter dem Wagen Hans Adalberts her, der sich immer weiter entfernte. „Warum“, rief sie im Traum, „warum wartest du nicht? Warum wartest du nicht?“ Und in den Traum hinein spürte sie immer wieder den eisigen Schrecken, der sie gepackt hatte, als der Wagen Alis um die Ecke bog und der Regen ihr auf die Schultern klatschte. Warum war Hagendörp weggefahren?
Der Majoratsherr Oskar fuhr um ein Uhr mit seiner Frau Anna fort. Sie waren bei den Herren von Drüdefeld auf Schornhof eingeladen. Man hatte wichtige Dinge zu besprechen. Die Drüdefelds waren nach den Hagendörps die grössten Grundherren im Fürstentum. Abgesehen natürlich vom Fürsten selbst, dem ein grosser Teil des Fürstentums persönlich gehörte, so dass er über vierzigtausend Morgen doppelt verfügen konnte, einmal als Grundherr, einmal als Landesherr. Die Drüdefelds opponierten immer grundsätzlich dem Fürsten, weil ihre Familie gut zweihundert Jahre älter war als die fürstliche. Wenn es aber um Wegeabgaben ging wie jetzt, so opponierten sie auch aus einfachem Ärger. Zum Abend waren alle Hagendörps zu den Töches eingeladen. Anna Hagendörp nahm die Gesellschaftskleider für Juliane und Hans Adalbert schon jetzt im Wagen mit. Denn die beiden wollten dann abends nach Quennfeld hinüberreiten.
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