Clemens zog ein kleines Bild aus der Brusttasche. Die Miniatur zeigte einen Frauenkopf. Das Gesicht sah Sophie ähnlich. »Wer ist das?«, fragte sie. »Verwahre es für mich. Bei dir ist es am besten aufgehoben«, bat Clemens, »es ist das Bild meiner Mutter.« Sophie wusste, dass Clemens’ Mutter schon vor Jahren gestorben war, und ahnte, welchen Wert das kleine Bild für ihn haben musste. Er nahm Sophies Hand und legte die Miniatur hinein. »Du darfst sie nie verlieren«, beschwor er Sophie, »du gleichst ihr.«
Wenn er in den nächsten Tagen vorbeikam, fragte er jedes Mal, ob die Miniatur auch sicher aufgehoben sei.
Immer wieder drängte er Sophie, Karl zu verlassen. Doch obwohl das Leben mit Karl trostlos war, wollte sie nichts davon hören, und bat Clemens, sie in Ruhe zu lassen. Genau das werde er tun, schrie er schließlich wütend. Am nächsten Tag stieg er in die Kutsche und reiste nach Göttingen ab. Jena, Sophie, die Medizin – alles wollte er abschütteln. Seinen Roman jedoch nahm er mit. Ein brauchbares Ende würde ihm, wenn sich alles um ihn herum verändert und erneuert hätte, sicher einfallen.
Sophie war froh, nicht mehr jeden Tag hören zu müssen, wie grob und tölpelhaft ihr Mann sei und dass sie unmöglich bei ihm bleiben könne. Doch nicht nur Clemens, auch andere warfen Karl abschätzige Blicke nach oder machten eine spöttische Miene, wenn sie seinen Namen erwähnten. »Gefesselt an einen Rohling«, hörte Sophie bei einem Gartenfest tuscheln. Karl, ein Klotz ohne jeden Schliff und Glanz. Sah man ihn so? Sophie verlor immer mehr die Lust daran, neben ihm zu leben. Bei leichter Konversation in geselliger Runde brachte er nur Übellauniges hervor, nicht anders als bei ernsthaften Gesprächen über Themen der Zeit und darüber, wie es in Europa weitergehen würde. Niemand interessierte sich für das, was er sagte, keiner hatte Lust, sich mit ihm auf ein Gespräch einzulassen. Oft kam es zu Streit, so dass Sophie beschloss, wieder nach Camburg zu ihrer Schwester zu ziehen. Gisela freute sich. Die Streitereien zwischen den Eltern verstörten sie, mehr noch aber sehnte sie sich nach den Cousins und Cousinen. Bis Weihnachten, beschloss Sophie, wollte sie in Camburg bleiben, vielleicht auch etwas länger. Allerdings war Camburg eher ein Dorf als eine Stadt und gesellschaftliches Leben gab es so gut wie gar nicht, höchstens ein bisschen Hausmusik.
Im Haus ihrer Schwester bezog Sophie mit Gisela ein geräumiges Zimmer, in dem sogar ein kleines Klavier stand, wie zu Hause in Jena. Die Bäume im Garten färbten sich herbstlich. Überall im Haus roch es nach den Äpfeln, die in der Küche und im Keller lagerten. Im Garten blühten Astern und Dahlien, die letzten Rosen trotzten dem kälter werdenden Wind.
Wie schon im vergangenen Winter kamen immer wieder Freunde aus Weimar und Jena zu Besuch. Manchmal kam auch Karl, der nicht müde wurde zu beteuern, dass er Sophie jede Freiheit lassen werde, wenn sie nur wieder zurückkäme. Sie dürfe schreiben und veröffentlichen, so viel sie wolle. Im Haus müsse sie gar nichts tun, er werde ein weiteres Hausmädchen anstellen. Aber Sophie wollte, zumindest vorerst, bei ihrer Schwester bleiben. Sie erklärte Karl, Gisela habe hier mehr Spielkameraden als in Jena, und da sie nun drei Jahre alt sei, brauche sie andere Kinder um sich. Außerdem sei das ländliche Leben in Camburg für Gisela auch viel passender.
Von den Freunden, die zu Besuch kamen, suchte vor allem Fritz jede Gelegenheit, mit Sophie allein zu sein. Bei den Mahlzeiten, wenn die ganze Familie am Tisch saß, sprach er von der Liebe. Sophies Schwester, der Schwager und eine Verwandte, die bei ihnen lebte und noch ganz im Stil der alten Zeit gekleidet war, wechselten besorgte Blicke. Fritz meinte es philosophisch. Die Liebe stelle prinzipiell den Zusammenhang alles Seienden her. Bei seinen Ausführungen versuchte er Sophie mit Blicken zu fesseln, denen zu entwischen ihr nicht recht gelang.
Er überredete sie zu langen Spaziergängen, was ihn keinerlei Mühe kostete, weil Sophie die Natur liebte. »Wir sollten uns Pferde nehmen«, schlug er bei einem dieser Spaziergänge vor, »da sieht man noch viel mehr vom Land.« Vor ihrer Heirat war Sophie viel ausgeritten. Sie sehnte sich danach, wieder über die Wiesen zu galoppieren.
Beim nächsten Besuch führte Fritz als Handpferd einen schönen Fuchs mit. »Für dich«, sagte er. Sophie bewunderte das Pferd, saß schließlich auf und ritt los, als hätte sie erst gestern im Sattel gesessen. Zusammen durchstreiften sie die Gegend und galoppierten bei Wind und Sonnenschein über die abgeernteten Felder. Fritz steckte Sophie mit seinem Übermut an. Bei einer Rast saßen sie nah beieinander unter einem Baum, an dessen Stamm sie die Pferde gebunden hatten. Fritz überraschte Sophie mit der Frage, warum sie sich nicht scheiden lasse. »Alle Welt scheint nichts anderes von mir zu wollen, als dass ich meinen Mann verlasse.« »Alle wollen nur dein Bestes.« Die fast kahlen Äste, zu denen Sophie hinaufsah, ragten in den blauen Himmel. Einzelne Wolken zogen vorbei und veränderten dabei ständig ihre Form. Eine sah aus wie ein Pferdekopf, wurde länger und verwandelte sich langsam in ein Krokodil. »Dein Mann ist es doch nicht wert, dass du bei ihm bleibst. Das weißt du selbst«, flüsterte Fritz. Er rückte näher, umarmte sie und küsste ihr Kinn. Sophie hielt sich an seiner Schulter fest, als sie zusammen nach hinten sanken. Das Laub um sie herum raschelte. Sie suchten sich. »Du bist wundervoll, viel zu schade für deinen Mann. Mach es wie Thea.«
Sophies Schwester wunderte sich, wie oft Sophie neuerdings Besuch von Fritz bekam und warum sich der junge, hübsche Mann mit den dunklen Locken nicht mehr blicken ließ. Die Familie saß beim Essen, Sophie, ihre Schwester mit Mann und Kindern, die Verwandte, deren altmodisches Spitzenhäubchen fortwährend zitterte, weil sie den Kopf nicht mehr ruhig halten konnte, ein befreundetes Ehepaar und Fritz. »Du meinst wahrscheinlich Clemens. Der ist in Göttingen«, erklärte Sophie ihrer Schwester. Fritz beschäftigte sich intensiv mit dem Stück Fleisch auf seinem Teller. Sophies Schwester fragte weiter, wunderte sich, dass Clemens kein Examen machen wollte, fragte, wie es ihm in Göttingen gefalle. »Das weiß ich leider nicht«, sagte Sophie. »Ja, hat er denn noch nicht geschrieben? Wie sonderbar«, meinte der Schwager. Fritz sah noch immer unverwandt auf seinen Teller. Schließlich hob er den Kopf: »Mir fällt gerade ein, er hat mir einen Brief an dich gegeben, Sophie, damals bei seiner Abreise aus Jena. Ich hatte es völlig vergessen. Natürlich habe ich ihn jetzt nicht bei mir. Das nächste Mal, wenn ich komme, gebe ich ihn dir ganz bestimmt. Es wird sicher nichts Wichtiges drinstehen.« Die Sache schien ihm peinlich, und damit sie sofort wieder in den Hintergrund geriet, begann er über Poetologie zu reden. »Der Geist der Liebe muss in der Poesie überall schweben.« »Wie? Das verstehe ich nicht«, krächzte die alte Verwandte. »So geht es mir auch«, befand der Schwager, und Sophies Schwester schloss sich an.
Am nächsten Tag reiste Fritz ab. Zwei Wochen später kam Jette, begleitet von Stefan. Er hatte sein Examen bestanden. Sophie freute sich über Jettes Besuch und gratulierte Stefan. Beim Begrüßungstee im Wohnzimmer erzählte Jette den neuesten Tratsch aus Jena, und dass der Geheimrat aus Weimar nach Göttingen gereist sei. Stefan wusste mehr darüber. »Die Studenten haben ihn mit einem Fackelzug gefeiert. Das hatte man ihnen vorher eigentlich verboten, aber sie haben sich nicht dran gehalten.« »Woher weißt du das«, fragte Sophie. »Clemens hat mir geschrieben. Er hat bei diesem Fest jemanden kennengelernt.« »Ach, ja«, meinte Sophie, »wen denn?« »Arnim, heißt er, von sogar, Carl Joachim Friedrich Ludwig von Arnim. Clemens hält ihn für einen großen Dichter, obwohl er eigentlich Physik studiert. Er hat ein paar wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht.« »Wieso hält Clemens ihn dann für einen Dichter?« »Ich weiß es nicht. Clemens schwärmt jedenfalls von ihm. Trotzdem bittet er nicht seinen neuen Freund, sondern mich, seinen verwilderten Roman fertigzuschreiben. Ich hätte ja jetzt Zeit. Er hat einfach keine Geduld. Das Abschreiben ist ihm zu viel, die ganze wilde Geschichte interessiert ihn nicht mehr. Für den Schluss fehlt ihm noch immer eine Idee, ich soll mir was einfallen lassen. Einen Verlag hat er anscheinend, aber keine Zeit.«
Читать дальше