Stefan und Jette blieben zwei Tage. Als sie wieder abreisten, gestand Stefan, Sophies Gegenwart habe ihn so angeregt und inspiriert, dass es ihm ein Leichtes sein werde, das Romankapitel für Clemens zu schreiben. »Du verwandelst jeden, der zu dir kommt, in einen Dichter.«
Trotz all der Besuche blieb Sophie viel Zeit zum Arbeiten. In dem kinderreichen Haus fand sich für Gisela immer ein Spielgefährte. Es fehlte nicht an Hausmädchen, die nach den Kindern sahen, und Sophies Schwester war eine tüchtige Hausfrau, die nicht zuließ, dass Sophie ihr half.
Ab und zu kam Karl zu kurzen Besuchen. Sophie freute sich eher, wenn er Camburg wieder verließ, als über seine Ankunft.
Im Dezember waren Stefan und Fritz gemeinsam da. Je dunkler und länger die Abende wurden, umso mehr spürte Sophie, wie sehr ihr die Gesellschaftsabende, die Konzerte und das Theater fehlten. Sollte sie doch nach Jena zurückkehren? Stefan drückte Sophie herzlich die Hand zur Begrüßung. Fritz führte ihre Hand an seine Lippen. Sophie amüsierte sich über dieses Kavaliersgehabe, das so gar nicht zu ihm passte.
Die beiden Freunde stiegen die Treppe hinauf, um sich oben in dem Zimmer, in das der Hausknecht die Reisetaschen brachte, frisch zu machen. Das Zimmer lag unterm Dach, direkt über dem von Sophie, die unten im Wohnzimmer auf die Freunde zu warten beschloss. Sie setzte sich auf einen der Lehnstühle am Fenster und wechselte ein paar Worte mit der alten Verwandten, die auf dem Sofa unter einem Landschaftsbild saß und strickte. Das Bild über ihrer Spitzenhaube zeigte eine griechische Tempelruine mit vielen Säulen.
Stefan kam als Erster wieder herunter. Als er das Zimmer betrat, begrüßte er die alte Dame mit einer Verbeugung und erzählte, dieser Besuch sei ein Abschied. Er werde mit Beginn des Jahres Arzt in Göttingen. Fritz kam und meinte, Stefan werde bestimmt ein guter Arzt. »Wir können froh sein, dass nicht jeder dieses Ziel ernstlich anstrebt.« Sophie fragte, wie er das meine. »Nun, unser Clemens hat glücklicherweise rechtzeitig aufgegeben. So bleiben wir doch wenigstens vor einem unsteten Träumer bewahrt, wenn wir mal krank sind. In seine Hände würde ich mich nicht begeben. Bei Stefan ist das ganz was anderes, nicht wahr, mein Lieber.« Er klopfte Stefan vertraulich auf die Schulter und schien gereizt. Später beim Essen produzierte er ständig spitze Bemerkungen von manchmal unangenehmer Schärfe. Man lachte zwar, aber jeder war froh, wenn die Spitzen einen anderen trafen, nicht einen selbst. Stefan bekam viel ab, blieb aber freundlich, so als könnte ihn nichts verletzen. Er schien vollkommen damit zufrieden, Sophie anzusehen und mit ihr an einem Tisch zu sitzen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen redete Fritz von Ausflügen zu Pferd und Bäumen, unter denen das Laub wie ein dicker Teppich liege.
Am Abend, als alle im Wohnzimmer zusammensaßen und Glühwein tranken, auch der Kachelofen war gut geheizt, begann Fritz wieder einmal über die Liebe zu philosophieren. Ohne sie gebe es kein Theater, keine Literatur. »Was erregt in uns so viel Leidenschaft wie die Liebe«, fragte er in die Runde. »Diese Parteinahme für die Leidenschaft wundert mich«, sagte Sophie, »bei Schillers Dramen stört sie dich doch.« Da jeder etwas über Leidenschaft und Vernunft sagen wollte, blieb es Fritz erspart, den Widerspruch zu erklären. Der Schwager meinte, er hege eine große Leidenschaft fürs Rationale. »Aber die Liebe ...«, sagte die alte Verwandte. Weiter kam sie nicht. »Die Liebe ist eine Passion«, unterbrach sie der Schwager. »Ein Lebenselixier«, meinte Stefan. »Das Leben selber«, sagte Sophie, »nur die Liebe bringt Selbständigkeit und Leben in den dumpfen Lebenskreis einer Frau, die nichts kennt als die Zimmer ihres Hauses. Nur durch die Liebe kann sie aus häuslicher Beschränkung treten, erfährt die Welt und die Rechte des Lebens. Liebe ist Teilhabe und macht dadurch selbständig.« Sophies Schwester und der Schwager wechselten Blicke des Einverständnisses. Fritz grinste und Stefan fragte, ob das denn auch für Sophie und ihre Ehe gelte. »Ich würde wirklich gerne wissen, wen du liebst«, sagte Fritz, »Karl kann es nicht sein, durch den du an der Welt teilhast. Mit wem genießt du die Rechte des Lebens? Deine Theorie, so schmeichelhaft sie für uns Männer ist, muss falsch sein. Es ist doch nicht etwa Clemens?« Sophies Schwester sah Fritz perplex an. Der Schwager schaute streng. Stefan fand ausgleichende Worte und äußerte mit ruhiger Stimme, am wichtigsten sei es doch, wenn man den jeweils eigenen, von der Natur gegebenen Anlagen gemäß leben könne. »So ist es«, stimmte Sophie zu, »wer nicht der eigenen Natur folgen kann, wird unglücklich. Niemand darf zu einem Leben gezwungen werden, das der natürlichen Weise nicht entspricht. Jeder und jede sollte die angeborenen Fähigkeiten entwickeln und selbstbestimmt nutzen dürfen.« Der Schwager runzelte die Stirn. Stefan sah Sophie aufmerksam an. Die alte Verwandte staunte mit aufgerissenen, halbblinden Augen über Sophies Rede. »Nur Schauspielerinnen und Künstlerinnen gelingt es, selbstbestimmt zu leben und Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Doch alle Frauen sollten selbstbeständig leben dürfen.« Der Schwager mahnte zur Mäßigung. Fritz aber wollte noch mehr Freiheitliches aus Sophie herauslocken und erwähnte die freie Liebe, was den Schwager ärgerte. Es entspann sich schließlich ein Gespräch über freiheitliche Gesinnung und ihre Folgen, über die Revolution und die Terrorjahre in Paris. Sophie redete viel und Stefan hörte mit glänzenden Augen zu. »Jetzt mit dem Ersten Konsul an der Spitze des Staates scheint es dort endlich ruhiger zu werden«, sagte der Schwager. Sophie zweifelte, ob diese Entwicklung, so gut sie für die staatliche Ordnung sein mochte, auch das Richtige für die freiheitliche Gesinnung war. Ihre Schwester gab schließlich, indem sie sich erhob, das Zeichen, schlafen zu gehen. Jeder nahm einen kleinen Leuchter mit, um durchs dunkle Treppenhaus aufs Zimmer zu gehen. Es war spät und das Personal schlief längst.
Als Sophie im Bett lag, hörte sie die Stimmen von Stefan und Fritz in dem Zimmer über sich. Die beiden dachten längst noch nicht ans Schlafen. Sie schienen zu streiten. Offenbar war Fritz eifersüchtig und warf Stefan vor, Sophie mit den Augen geradezu aufzusaugen. Sie verstand nicht jedes Wort, aber ihr schien, als wenn die beiden über Clemens redeten. Es war kalt und Sophie zog die Decke bis zur Nasenspitze. Sie hörte, wie Stefan Fritz vorwarf, er habe Clemens weisgemacht, Sophie plane eine Reise nach Italien. »Und seinen Brief hast du ihr auch nicht gegeben, stimmt’s?« Sie hörte Fritz lachen. »Und du? Hast du etwa ein gutes Wort für ihn bei ihr eingelegt, wie er dich gebeten hat?« Es kam keine Antwort. Stattdessen hörte Sophie die triumphierend laute Stimme von Fritz: »Na, siehst du. Aber mach dir nichts draus. Du bist deswegen kein schlechter Mensch. Einer ist draußen. Jetzt wollen wir sehen, wie’s weitergeht.« Eine Weile herrschte Ruhe. »Lass den Unsinn«, hörte sie plötzlich Stefans Stimme, »lass das, du spinnst.« Dann lachte er. Was machten die beiden, welchen Unsinn sollte Fritz lassen? Sophie vernahm die Stimme von Fritz: »Sophie oh, oh, mach so, so, so, mit dem Popo.« Er wiederholte es immer wieder und immer lauter. »Du bist mir zu frivol, mein Lieber. Hör auf damit. Ich schlaf jetzt«, hörte sie Stefan sagen.
Am nächsten Tag verabschiedete Sophie sich herzlich von Stefan. Er stand schon in der Haustür, warm angezogen mit Hut, Mantel und Schal. Draußen schneite es. Sie würden sich lange nicht wiedersehen. »Ich muss erst in der neuen Stadt Fuß fassen, aber irgendwann komme ich sicher wieder einmal hier in die Gegend.« »Du wirst dich dort schnell einleben«, sagte Fritz übertrieben munter, »ich gebe hier solange den Alleinunterhalter, damit Sophie sich nicht langweilt. Meine Liebe, meine Schönste, ich komme gewiss bald wieder.« »Daran zweifle ich nicht.« Mit kühlem Lächeln reichte Sophie ihm die Fingerspitzen, zog die Hand aber sofort zurück, als er sich zu einer Verbeugung mit Handkuss anschickte. »Immer zu Scherzen aufgelegt«, sagte sie zu Stefan gewandt.
Читать дальше