Sophie arbeitete viel. Vor ungefähr einem Jahr war ihr kleiner Sohn gestorben und sie war froh darüber, ihre Tochter bei sich zu haben. Die Kleine hustete, aber schien ansonsten gesund, auch wenn sie ein bisschen empfindlich war.
Mitten in der Karnevalszeit traf Karl in Camburg ein. Er hoffte, Sophie zur Rückkehr nach Jena zu bewegen, und sprach vom Theater, den Bällen, Konzerten und Gesellschaftsabenden. Aber Sophie blieb entschlossen, den ereignislosen Winter in Camburg durchzustehen. Sie dachte viel über ihre Ehe nach, über das Leben, fragte sich, ob sie nicht alles falsch mache.
Von einem Tag auf den anderen bekam Gisela hohes Fieber, der Hals brannte und sie jammerte wie ein Kätzchen. Sophie saß an ihrem Bett. Zum Glück verstand ihre Schwester viel von Krankenpflege. Sophie hätte es nicht verkraftet, wenn sie nach dem Tod Gustavs im letzten Jahr jetzt auch Gisela verloren hätte.
Was aber, überlegte sie, würde sie fühlen, wenn Karl plötzlich nicht mehr da wäre? Er bedeutete ihr gar nichts, ihre Ehe war eine Farce. So durfte es nicht bleiben. Was ihr plötzlich ganz klar war, sollte auch für die Welt klar werden. Mit Karl verband sie nichts. Sie schrieb ihm einen Brief, indem sie ihm erklärte, dass sie eine klare Trennung wollte. Die Scheidung.
Der Winter ging zu Ende. Sophie entdeckte die ersten Schneeglöckchen im Garten. Eine Kutsche näherte sich und hielt vor dem Haus. Karl stieg aus und brachte Jette mit. Hoffte er, dass Jette Sophie zur Vernunft bringen und überreden konnte, wie bisher weiterzuleben?
Sophie brachte Jette auf ihr Zimmer. Aus ihrer Reisetasche holte sie allerlei Briefe mit Gedichten und sonstigen Texte hervor, die junge Leute, vor allem Frauen, an die Adresse in Jena geschickt hatten. Sophie sollte die Gedichte und Aufsätze, Geschichten und Entwürfe lesen und sich dazu äußern. Alle, die ihr etwas schickten, hofften auf eine freundliche Antwort. Leider konnte Sophie sie nicht immer geben. Sie legte die Briefe mit den Manuskripten ungeöffnet in die Schublade einer Kommode aus Lindenholz neben ihrem Schreibtisch. Es war ein ganz schlichtes Möbelstück. Persönlich wichtige Briefe kamen in eine Schublade in ihrem Schrank aus Kirschbaumholz.
Sophie war glücklich, Jette wiederzusehen und mit ihr wie früher am Familientisch zu plaudern. Nach dem Essen gingen sie zu zweit im Garten auf und ab. Sophie fragte, ob Karl Erkundigungen darüber eingezogen habe, wie eine Scheidung ablaufen könnte. »Ich glaube schon, aber ich weiß nicht, ob er etwas herausgefunden hat.« Wer mochte für eine Scheidung zuständig sein? Der Pastor, der Bürgermeister? »Wie war das denn bei Thea?«, fragte Sophie. Fritz hatte so oft von Theas Scheidung erzählt, dass sie sich wunderte, kaum etwas über die notwendigen Schritte und Maßnahmen der Verwaltung gehört zu haben, die in so einer Sache nötig waren. »Ich werde Thea und Fritz direkt danach fragen, sobald ich zurück in Jena bin«, meinte Jette und schlug vor, Sophie solle sich an den Geheimrat in Weimar wenden. »Er hat Einfluss und weiß sicher einen Weg. Du kennst ihn doch gut, nicht nur so, wie ihn jeder im Land kennt. Du kennst ihn so gut, dass er dich persönlich empfängt. Fahr doch mal zu ihm. Rede mit ihm, oder mit Schiller.« Jette überlegte noch eine Weile, was Sophie unternehmen könnte. »Es scheint alles so kompliziert. Wo würdest du wohnen? Wovon leben?« »Ich verdiene doch Geld mit meinen Büchern. Ich müsste einfach noch mehr arbeiten, vor allem als Herausgeberin.« Die beiden gingen an der Gartenmauer entlang, errichtet aus Steinen, wie man sie in der Gegend fand. Die Bäume warfen lange Schatten, denn die Sonne erreichte zu dieser Jahreszeit mittags noch nicht den hohen Stand wie im Sommer. Jenseits der Mauer im Nachbargarten gackerten Hühner. In der Ferne bellte ein Hofhund.
Jette sagte, auch sie habe sich überlegt, wie sie Geld verdienen könne. »Ich lebe vom Geld, das Friedrich mir gibt, ich bin angewiesen auf dich und Karl. Wenn ich selber etwas mehr Geld hätte ...« Eine Möglichkeit wäre, feine Handarbeiten anzufertigen und zu verkaufen, oder sie könnte eine Stelle als Gesellschafterin bei einer Gräfin oder adligen Familie annehmen. »Meine Sprachkenntnisse wären ihnen auf Reisen sehr nützlich. Auch beim Vorlesen italienischer oder englischer Romane. Ich dachte mir, ich glaube, das Beste ist, ... ich könnte ...« »Ja, was denn?« »Ich könnte versuchen, Romane zu übersetzen. Aber muss dann mein Name unter dem Buchtitel stehen?« »Nicht unbedingt. Aber wovor hast du Angst, liebe große Schwester? Was befürchtest du?«, lachte Sophie und versuchte Jettes Bedenken zu zerstreuen. Jette fragte, ob es nicht möglich sei, dass Sophie sie als jungen Mann bei Verlagen empfehle. »Über Frauen lacht man doch, wenn sie sich anmaßen, aus dem häuslichen Bereich herauszutreten. Wenn man mich für einen jungen Mann hält, wird man meine Bemühungen ernst nehmen. Wer traut einer Frau schon etwas zu?« »Automatisch nimmt man auch Männer nicht ernst, vor allem wenn sie noch sehr jung sind. Sie müssen schon etwas leisten«, sagte Sophie. Jette lächelte und fragte nach Clemens. »Ich habe keine Briefe mehr von ihm bekommen und schreibe ihm auch nicht.« Sie erreichten das Gartentor und kehrten nun auf direktestem Weg zum Haus zurück. Sie froren, denn obwohl die Sonne sie herausgelockt hatte, war es ein kalter Tag. »Ich bin froh, dass du ihn los bist. Er ist ein bisschen verrückt und ziemlich anmaßend. Findest du nicht, dass er etwas Dämonisches hat?« Sophie lachte leise und umarmte Jette. »Da müsste er aber ein sehr junges Teufelchen sein, ganz ohne Hörner. Auch einen Pferdefuß kann ich nicht an ihm finden.« »Falsch. Jung ist er, das stimmt, aber ich finde, dass er sich seine Hörner noch gehörig abstoßen muss. Du solltest nicht über mich lachen.« »Aber ich lache doch gar nicht über dich. Ich stelle mir nur Clemens als Teufel vor. Und wie gefällt dir Fritz?« »Ach, der ist auch nicht viel besser. Aber warum fragst du?« Sie waren beim Haus angekommen und betraten den Flur. »Vielleicht suche ich einen Liebhaber. Was meinst du?« Jette fasste beide Hände Sophies und bat sie eindringlich, sie möge sich das gut überlegen. »Fritz hat doch eine Freundin. Das gibt viel Verwirrung. Er ist unterhaltsam, aber er ist nichts für dich.« Sophie entzog Jette ihre Hände. »Nimm’s nicht so ernst. Ich tu’s auch nicht«, sagte sie. Jette lächelte erleichtert. »Da bin ich froh. Er würde dich nur ausnutzen, so wie jetzt seinen Bruder. Bei ihm wohnt er und ich glaube, er lebt von dem Geld, dass Thea als Unterhalt von ihrem geschiedenen Mann bekommt. Mit ihm würdest du nicht glücklich. Glaub es mir.« Gisela lief an ihnen vorbei, zusammen mit zwei Cousinen, hinaus in den Garten. Sophie sah den Kindern nach. Die warme Jacke, die Gisela trug, bedeckte ihre kurzen Kinderbeine und ließ sie fast wie eine Kugel erscheinen.
Sophie arbeitete an ihrem Schreibtisch, als Karl hereintappte. Sie stand auf und Karl bemühte sich, höflich zu sein. Aus Versehen stieß er gegen das Pianino. »Seitdem du nicht mehr zu Hause bist, spielt niemand das Instrument bei uns.« Sophie ging nicht darauf ein und erklärte, dass sie die Trennung von ihm nicht nur erwäge, dass sie ihm nicht vorspiele, ihn verlassen zu wollen, um ihm Zugeständnisse abzupressen. Sie wolle die Scheidung tatsächlich. Er solle endlich einsehen, dass sie es ernst meine. Karl hörte zu. Er wirkte hilflos, was den grobschlächtigen Mann noch mehr wie einen tapsigen Bären erscheinen ließ. Er ließ sich auf Sophies Bett nieder. »Ja, aber dann ...« Sophie ging langsam durchs Zimmer, blieb einen Moment am Pianino stehen, stellte sich ans Fenster und sah hinaus, ohne darauf zu achten, was sie sah, Karl den Rücken zugewandt. »Dann muss man mal herausfinden, auf welche Weise das überhaupt geht«, hörte sie Karls Stimme. Er wusste also wirklich nichts darüber, hatte bisher nichts in Erfahrung gebracht. Wie Sophie kannte er niemanden, der im Herzogtum geschieden worden wäre. Aber als Juraprofessor musste es ihm möglich sein, Bewegung in die Angelegenheit zu bringen. Außer Thea gab es keine Geschiedenen in Jena, aber die war aus Berlin. »Man behauptet übrigens«, sagte Karl, »dass Fritz von dem Geld, das Thea ...« »Ich weiß, ich weiß«, fiel Sophie ihm ins Wort. »Ich kann dir jedenfalls nicht so viel Unterhalt zahlen, dass du deine Liebhaber damit aushalten könntest.« »Sollst du auch nicht. Ich verdiene selber Geld. Aber zwei- oder dreihundert Taler im Jahr müssten es schon sein, vor allem für Gisela.« »Was?«, fuhr Karl auf, »du willst Gisela behalten? Darüber müssen wir noch reden. Und zweihundert Taler, das ist viel zu viel.« Missmutig tappte er zur Tür. Beim Hinausgehen warf er sie geräuschvoll hinter sich zu.
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