Sophie sprach beim Essen von Schiller und seinem neuesten Drama. Sie überlegte, nach Weimar zu fahren, wo es zum ersten Mal aufgeführt werden sollte. Sie kannte Teile des Textes und hatte mit ihm darüber geredet, als er daran arbeitete. »Die Jagemann spielt die Elisabeth. Ich will sie unbedingt sehen, schon weil sie sich anfangs so sehr dagegen gesträubt hat. Schiller musste sie lange überreden.« »So, musste er das?«, brummte Karl. Er lehnte eine Fahrt nach Weimar ab. Bloß wegen eines Dramas um eine Königin, die am Ende geköpft wurde, wollte er nicht die halbe Nacht durch die Gegend kutschieren. »Du solltest es ebenfalls nicht wollen. Diese nächtlichen Kutschfahrten sind ...«, er wusste nicht weiter. Er war einfach dagegen, ein gutes Argument fiel ihm aber nicht ein. »Bedenke doch, es ist Juni und die Nächte mild«, sagte Sophie, »gegen eine Fahrt durch die Nacht ist nichts einzuwenden. Zumal es ja auch nicht sehr weit ist. Wenn Schnee läge, würde ich dir recht geben, Karl, aber es ist Sommer. Nächste Woche haben wir den längsten Tag im Jahr. Schon kurz nach vier wird es hell. Lass mich diese Aufführung besuchen«, bat Sophie. Stefan und Clemens schauten auf ihre Teller, und versuchten so zu tun, als seien sie gar nicht anwesend. »Du fährst nicht. Du willst dich bloß wieder mit irgendeinem heimlichen Liebhaber vergnügen.«
Sophie entgegnete so freundlich und sanft wie nur möglich: »Ich möchte mir dieses Stück ansehen und würde mich freuen, wenn du mich begleitest. Eine Bekannte kommt auch mit. Wenn du wirklich nicht mitkommen willst, werde ich mir jemand anderen zu meiner Begleitung suchen müssen. Clemens wird gerne mitkommen und uns beschützen.« Sie sah in die Runde. »Oder Stefan. Oder vielleicht haben Fritz und Thea Lust mitzufahren.« »Ich will, dass du hier bleibst«, grollte Karl. Sie stritten weiter, doch Sophie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
Clemens und Stefan saßen wortlos dabei und warteten ab, wie der Streit ausgehen würde. Hin und wieder lächelte Clemens Sophie aufmunternd zu oder nickte bekräftigend zu ihren Worten. Er würde sie begleiten, wenn er durfte. Egal ob ihm das Stück gefiel oder nicht, die Fahrt würde ihm gefallen, eine ganze Nacht mit Sophie – wenn auch nur eine kurze Nacht und nicht allein.
Drei Tage nach der Theateraufführung saß Sophie über den Papieren, die sie für den ersten Band von Kalathiskos ordnete, als das Hausmädchen den Besuch von Fritz meldete, der auch sofort ins Zimmer trat. Er musste dem Mädchen gefolgt sein, ohne abzuwarten, ob Sophie ihn empfangen wollte. Sophie begrüßte ihn – freundlich, obwohl sie eigentlich niemanden sehen, sondern arbeiten wollte.
Fritz lebte noch nicht lange in Jena. Im Haus seines Bruders, wo man sich in einem Salon traf, der die Ausmaße eines Saales hatte, wohnte Fritz in einer Mansarde, seine Freundin Thea im Parterre. Sie war mit ihm aus Berlin gekommen, eine geschiedene Frau, die ihren jüngsten Sohn bei sich hatte. Ganz Jena tuschelte darüber. Dass es Scheidungen in Frankreich gab, wusste man. Besonders viele in den letzten zehn Jahren. Aber in keinem der sächsischen Länder war auch nur ein einziger Fall bekannt. Mit Verwunderung nahm man zur Kenntnis, dass es in Berlin, woher Thea kam, offenbar möglich war.
Fritz fragte gar nicht erst, wie Sophie das Drama in Weimar gefallen habe. Er hatte das Stück zwar noch nicht gesehen, dafür aber eine klare Meinung. Alles von Schiller fand er urkomisch, egal wie ernst der Inhalt und wie kraftvoll die Sprache war. »Über diesen Enthusiasmus kann man nur lachen, diese Leidenschaft ist nicht auszuhalten:
Ruhmvolle Königin! Du krönest heut
Die heißen Wünsche deines Volks. Nun erst
Erfreun wir uns der segenvollen Tage,
Die du uns schenkst, da wir nicht zitternd mehr
In eine stürmevolle Zukunft schauen.«
Er klappte das Büchlein zu, aus dem er deklamiert hatte, und hielt es wie ein Trophäe hoch. Mit getragener Stimme und unterdrücktem Lachen setzte er fort:
»Rum-voller Dichterling du tönest laut
von heißen Würstchen deines Jahrmarktstandes
und schwelgst uns vor von wunderbarer Größe
des Glases voll mit Lebenselixier
zum Rausch an arg verzagten Zittertagen.«
Obwohl Sophie das Drama gefallen hatte, brach sie in Lachen aus. Fritz fuhr fort mit Szenen, die Schiller geschrieben haben könnte, aber wandte alles ins Komische. »Du bist ungerecht, das Schicksal der Königin und die Sprache im Drama sind doch eigentlich ergreifend«, rief Sophie atemlos vor Lachen. Sie verteidigte Schiller, doch Fritz fand: »Er wird maßlos überschätzt.«
Das Mädchen meldete Clemens. »Lassen wir ihn rein«, rief Fritz übermütig, »dann höre ich vielleicht, was er von diesem großartigen Königinnen-Drama hält. Er war doch mit von der Partie?« Lauernd beobachtete er Sophies Gesicht. »Ja«, sagte sie. Was dachte Fritz sich eigentlich? Wahrscheinlich dasselbe, was Karl befürchtete. Sollten sie denken, was sie wollten. In der Kutsche war nichts geschehen, was die Bekannte, die Clemens und Sophie gegenübersaß, hätte erröten lassen müssen.
Clemens kam herein und Fritz begrüßte ihn, indem er ihm seine Hand auf die Schulter legte und ihn hinderte, auf Sophie zuzugehen. »Ich beneide dich um die Fahrt nach Weimar, mein Lieber, und vor allem um die Fahrt zurück, mit aufgewühlten Gefühlen, erschüttert vom königlichen Schicksal, rhythmisch gewiegt und gerüttelt im Wagen durch die Nacht.« Dabei richtete Fritz einen betont schmelzendem Blick auf Sophie. Sophie ärgerte sich über ihn und erwähnte kühl, dass ihre Bekannte mitgefahren sei. »Vielleicht hast du Lust, sie ebenfalls nach ihrer Meinung zum königlichen Schicksal zu fragen. Ich denke, sie kommt heute noch. Gegen Abend.« »Sogar mit zwei Frauen war unser Clemens nachts allein in der Kutsche. Unter diesen Umständen hätte mir dieses Schiller-Drama auch gefallen. Nicht wahr, es war ein Erlebnis?« Mit einem auffordernden Klaps auf Clemens’ Schulter wartete er auf eine Antwort. Die fiel so schlagfertig aus, dass Fritz es vorzog, sich zu verabschieden. Er verbeugte sich gespielt galant und schritt zur Tür, nicht ohne in Aussicht zu stellen, Sophie bald wieder zu besuchen. »Ein amüsanter Mensch«, sagte Sophie. »Ja, mag sein. Jedenfalls einer mit einer klaren Meinung, das ist immerhin was wert. Nicht jeder hat so was.« Sophie schob die Papierbögen auf ihrem Schreibtisch zusammen. Hatte sie bei der Ankündigung von Fritz noch gedacht, bald wieder an die Arbeit gehen zu können, wusste sie, da Clemens gekommen war, dass sie heute nicht mehr zum Arbeiten kommen würde. Clemens brannte darauf, ihr von seinem Roman zu erzählen. Inzwischen hatte er Hunderte von Seiten geschrieben, aber ein Ende war noch nicht abzusehen. »Weißt du, was mir am besten dabei gefällt?«, fragte er. Ohne ihre Antwort abzuwarten, begann er mit Erklärungen, warum er den Roman überhaupt schreibe. Er schaffe sich damit eine Welt ganz nach seinem Geschmack. »Und ich erfinde eine Frau, wie sie sein soll.« »Ich weiß, das war dein Plan.« »Sie ist dir ganz ähnlich.« Überrascht fragte Sophie, ob sie denn eine Frau sei, wie sie sein solle. »Du bist schön, voller Leben, dabei zart wie eine Elfe. Stark und sanft bist du, und du kannst lustig sein, auch wenn du mir fast noch besser gefällst, wenn du melancholisch bist, in diesem geheimnisvollen Leiden an der Welt seit Gustavs Tod.« Sophie ging zum Fenster und sah hinaus. Was redete er bloß? »Leider bist du natürlich doch nicht ganz die Frau, wie sie sein soll. Darum muss ich diese Frau im Roman entstehen lassen.« Sophie drehte sich wieder zu Clemens um und wollte wissen, woran es ihr denn seiner Ansicht nach fehle. Er dachte einen Moment nach. »Du bist nicht fürsorglich zum Beispiel, du opferst dich nicht auf. Du trauerst, das ist wahr, um Gustav, und du hast, ich schwöre es bei Maria, keine Schuld daran, dass er gestorben ist. Du bist liebevoll, ich kenne keine Frau, die so voller Liebe ist, aber du bist zu frei, flatterst herum wie ein Schmetterling oder Vogel. Du bleibst nie, wo du bist, keiner kann dich fassen und halten.« Sophie bereute, ihn gefragt zu haben. »Ich werde deinen Roman lesen, wenn er fertig ist. Vielleicht gelingt es mir, nicht fortzuflattern, ehe ich mich in deinem Roman wiedergefunden habe.« »Ganz sicher wirst du dich darin wiederfinden. Ich verwende Sätze aus Briefen, die du mir geschrieben hast. Ich will ein Gewebe herstellen, das ganz mit dir verflochten ist.«
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