Wilhelm Meister , den langen Roman, über den sie schon längst gerne mit jemanden hier gesprochen hätte. Das Gespräch darüber ging nicht tief und irgendwie geriet man aufs Gebiet der Natur und auf Rousseau. »Bei diesem Rousseau muss man vorsichtig sein«, meinte Stefan, »einer, der behauptet, dass Frauen zu echter Begeisterung und hoher Kunst völlig unfähig sind, ist doch einfach nicht glaubwürdig. Ich finde, Fritz hat recht. Wie sagt er doch? Die griechischen Dichterinnen hätten Lesbos zum schönsten Garten der Musik gemacht, oder so ähnlich.« Sophie holte Luft und wollte dazu etwas sagen, doch Clemens rief unvermittelt dazwischen: »Das ist es. Genau so mach ich es, bunt und vielfältig, so wie ein Roman sein soll.« Im Begriff aufzuspringen warf er die Serviette neben den Teller, blieb aber sitzen, als er verdutzte Blicke von Stefan und Sophie auffing. »Du meinst, du schreibst einen Roman?« »Und was soll darin passieren, worüber willst du schreiben?« »Ja, das ist doch aber völlig klar. Ich schreibe einen Roman, wie er sein soll, über eine Frau, wie sie sein soll.« »Eine Frau, wie sie sein soll. Gibt es so ein Buch nicht schon?« »Nicht so, wie ich es machen werde.« Stefan mahnte ihn, sich lieber mit Anatomie oder Physiologie zu befassen und sich nicht in so ein großes Vorhaben zu stürzen. Sophie schloss für einen Moment die Augen. Was hatte Clemens vor? »Du redest wie meine Brüder«, rief er zornig, lenkte nach einem Blick auf Sophie aber sofort ein. »Ich weiß, du meinst es nur gut, Stefan. Aber verschone mich mit solchen Mahnungen.«
Wenn Sophie nach dem Essen keinen Spaziergang machte oder Bekannte besuchte, saß sie am liebsten in ihrem Zimmer an dem kleinen Schreibtisch oder dem Pianino. Hier, wo sie in Ruhe arbeiten und schreiben konnte, empfing sie ihren Besuch. An den Fenstern des geräumigen Zimmers hingen lindgrüne Vorhänge, was die Augen angenehm erfrischte. Mit dem gleichen lindgrünen Stoff war auch das Sofa bespannt. Sie saß am Klavier und präludierte, wobei sie über die Tischrunde und ihren Mann nachdachte. Sie liebte ihn nicht und war nie in ihn verliebt gewesen. Es war ein Fehler, ihn zu heiraten, auch wenn es eine vernünftige Entscheidung gewesen sein mochte. Eine Entscheidung, die sie lange hinausgezögert hatte, bis sie letztlich doch einwilligte, damals vor sieben Jahren. Sophie durfte sich nicht länger weigern, diesen Freund von Friedrich zu heiraten, denn Friedrich hatte als Ältester die Verantwortung für die jüngeren Geschwister. Er trug alle Kosten. Und was sprach dagegen, einen Freund des Bruders zum Mann zu nehmen, noch dazu einen, der Sophie ein abwechslungsreiches Leben in Jena versprach? Karl kannte Schiller und hatte ihm ihre Gedichte gezeigt. Durch ihn hatte sie all die anderen dichtenden und diskutierenden Männer und Frauen dieser Stadt kennengelernt und durfte an den Tischrunden, Gartenfesten, Bällen und sommerlichen Ausflügen teilnehmen. Als Karls Frau konnte sie interessante Vorträge hören, zu Theateraufführungen gehen oder selber Theater spielen. Das Leben in Jena entschädigte sie dafür, nicht mehr frei zu sein und ihr geliebtes Altenburg verlassen zu haben. Es gab eine Bibliothek, botanische Sammlungen und Gärten und immer wieder Gespräche und Plaudereien. Auch als Ehefrau sah sie mit ihren blonden Locken und den weißen Kleidern, die sie nach der neuesten Mode trug, wie ein junges Mädchen aus. Karl war sichtlich stolz, sie eingefangen zu haben, und genoss den Neid der anderen Männer. Aus Vernunft hatte sie ihn geheiratet, so wie es üblich war, Gefühle waren dabei nebensächlich. Doch ohne Liebe fühlte sie sich in seinem Haus wie in einem Käfig, trotz aller Geselligkeit, und obwohl Karl ihr viel Zeit für die Arbeit am Schreibtisch ließ.
Vor vier Wochen hatte sie bei ihrer Schwester in Camburg mit der Familie ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Auch einige Freunde waren zum Feiern aus Jena gekommen, Stefan, Clemens und Fritz mit Thea, die ihren Sohn mitbrachte. Der Junge schloss sofort Freundschaft mit den Kindern von Sophies Schwester. An Geist und Redelust war Thea ihrem Geliebten völlig ebenbürtig, was fast unmöglich schien, denn Fritz steckte voller Ideen. Sophie mochte ihn, so wie auch den ruhigen Stefan, der sicher mal ein guter Arzt werden würde. Bei Clemens hielt sie das für weniger wahrscheinlich. Er schien ihr rätselhaft, leidenschaftlich, flatterhaft, manchmal auch ein wenig grüblerisch und düster. Er hatte bereits Verschiedenes studiert, probierte es in Jena nun mit Medizin, aber eigentlich wollte er dichten und das Leben als Kunstwerk gestalten. Er war zweiundzwanzig, Sohn einer reichen Familie, verwöhnt und phantasievoll. Er konnte über alles reden, hatte die unterschiedlichsten Einfälle, aber ihm fehlte es an Ausdauer und seine Stimmungen wechselten wie an einem Apriltag das Wetter. Langweilig war es mit ihm nie. Er sei wie ein Blütenzweig im Wind, hatte Sophie ihm einmal gesagt, voll schönster Ideen, doch hin und her getrieben ohne Ziel. Halt fand er in seiner Familie wie der Zweig am Stamm, aber gleichzeitig strebte er fort. Halt gab ihm auch der Mittagstisch bei Karl und Sophie, aber er scheute sich nicht, über den tapsigen Gastgeber zu spotten. Auch Fritz hielt sich mit Witzen auf Karls Kosten nicht zurück.
Manchmal sehnte Sophie sich nach Camburg zurück, wo sie weder ihren Mann sehen noch gehässige Bemerkungen über ihn hören musste. Bemerkte sie bei Tisch, dass wieder mal sein Ärmel in den Teller geriet oder Wein tropfen auf seinem Hemd landeten, konnte sie immer weniger verstehen, dass sie seine Frau geworden war. Ihre Abneigung gegen seine ungeschickten Grobheiten wuchs, ohne dass sie daran etwas ändern konnte. Sollte sie mit Jette darüber reden? Ihre Schwester war ein Jahr älter als sie und äußerte ihre Meinungen unverblümt, wenn man sie fragte. Sie sah zwar nett aus, war aber keine vollendete Schönheit wie Sophie, und kleidete sich äußerst bescheiden. Nach ihr drehte sich niemand um, während Sophie, zierlich wie eine Figur aus Meissener Porzellan, kaum mit einem Mann allein in einem Zimmer sein konnte, ohne sich gegen Umarmungen wehren zu müssen.
Jette und Sophie hatten beide eine gute Ausbildung erhalten. Beide sprachen Französisch und Italienisch, spielten Klavier und hatten beim Singen eine angenehme Stimme. Sie fanden sich mit Leichtigkeit auf dem Globus in der Bibliothek und in Kartenwerken zurecht und beteiligten sich an philosophischen und politischen Gesprächen. Die Ereignisse in Frankreich hatten sie als junge Mädchen voller Spannung verfolgt. Noch immer redete Sophie über nichts so gerne wie über Freiheit und Gleichheit. Mit Jette stritt sie oft darüber, ob Freiheit für Frauen möglich war. Jette bezweifelte das. Hätte es nach der Revolution nicht die Terrorjahre gegeben, meinte sie, gäbe es nicht dort wie hier und überall das Bedürfnis nach strikter Ordnung, dann wäre eine größere Freiheit vielleicht auch für Frauen möglich. Aber eine Frau sei die Seele, die ein Mann in seinem Haus installiere, indem er sie heirate. Sonst nichts. Werde sie nicht geheiratet, sei sie höchstens geduldet. In Jettes Stimme lag weniger Spott als Bitterkeit, während sie das sagte.
Sophie saß mit ihrer Freundin Lotte und Jette bei geöffneten Fenstern in ihrem Zimmer. Durch die halb geschlossenen Vorhänge drang die Nachmittagssonne, und der Duft blühender Gärten erfüllte die Luft. Jette stickte, die Freundin blätterte im Journal des Luxus und der Moden . Das Hausmädchen brachte Kaffee und Sophie schenkte ein. »Falsch ist es natürlich nicht«, wandte Sophie sich an ihre Schwester, »was du über verheiratete Frauen sagst. Aber liegt das nicht vor allem daran, dass die meisten Ehen von den Familien arrangiert werden? Wenn statt Vernunft die Liebe zur Grundlage der Ehe wird, wenn freier Wille und Gefühl Mann und Frau zusammenbringen, dann wird die Ehefrau nicht willenlos und unfrei in den engsten Kreis gebannt. Sie könnte frei sein wie ihr Mann.«
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