Eine grosse Genugtuung hob der Greisin Seele: wenn man lange genug gewartet hat, dann kommt doch endlich das, auf das man schon geglaubt hat, verzichten zu müssen. Lange blickte sie so in das ernsthafte junge Gesicht, das ihr im Schlaf mehr offenbarte als im Wachen. Sie dachte nicht mehr daran, dass Lore aufwachen könnte und dass sie dann hier stehen würde ertappt; sie konnte sich gar nicht losreissen. Erst als Lore, von dem starrenden Blick in ihrem Schlaf beunruhigt, anfing, sich zu regen, den über den Kopf gelegten Arm herunterfallen liess, floh sie.
Lore war erwacht, sie setzte sich aufrecht. Ihr war es gewesen, als hätte etwas ihre Stirn berührt. Und hatte ihre Tür nicht geklappt? Tappte nicht auch draussen im Gang etwas? Nun der Vater nicht da war, war man so ganz ohne Mann im Haus. Aber freilich, der hätte auch nichts genützt. Entschlossen sprang sie aus dem Bett und zündete Licht an. Merkwürdig, ihre Tür war nur angelehnt. Aber draussen im Gang war niemand. Aha, das hatte der Wind getan, der Wind, der greuliche Wind! Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum: nun konnte der nicht mehr aufmachen.
In dieser Nacht brannte bei der alten Längnick noch lange die Lampe. Sie hatte in ihrem Zimmer noch immer eine Petroleumlampe, die gab ihr ein Licht, an das sie gewohnt war von früher her. Und billiger war diese Art von Beleuchtung auch. Sie schrieb einen Brief an Frau Ingeborg Bade, jetzt verehelichte Till, schrieb ziemlich ausführlich, warum und weswegen sie Brigitte her zu haben wünsche. Sie war keine Heldin mit der Feder, aber was sie wollte, brachte sie schon zu Papier. Von einer Pensionszahlung war nicht mehr die Rede; alles sollte Brigitte hier frei haben und genau gehalten werden wie Lore. Sie schloss mit einer Wendung, von der sie überzeugt war, dass sie den gewünschten Erfolg haben würde.
‚Wenn Brigitte Bade als liebevolle Gefährtin und treu ergebene Freundin bis zu Lores Verheiratung bei derselben bleibt, gebe ich ihr bei ihrer etwaigen eigenen Verheiratung die Aussteuer. Für den Fall, dass ich dann nicht mehr lebe, bekommt Brigitte Bade ein Kapital von fünfzehntausend Mark ausgezahlt. Ich lege das fest.
Hochachtungsvoll
Frau Friederike Längnick-Güldenaue.‘
„Lies mal“, sagte Frau Ingeborg. Ihr Mann nahm den Brief, den sie aus Güldenaue erhalten hatte; erst las er ihn ziemlich interesselos, das, was da Schönes von einer Freundschaft zwischen der Erbin und Britta stand, war ja ohne Belang. Aber dann wurde er aufmerksamer: also man legte so viel Wert auf Brittas Kommen, dass man ihr eine Aussteuer respektive die betreffende Summe dafür aussetzen wollte?
„Ist denn da so viel Geld?“ fragte er.
„Oh, mächtig viel“, rief Ingeborg. „Die Alte hat ja mit ihrem Landschacher Millionen verdient. Eine grässliche Frau, Geld, Geld und nochmals Geld! Schon früher wollte sie Britta haben. Aber ich sollte Pension zahlen — wo Geld ist, wollen sie immer noch mehr Geld — das sollte mir gerade fehlen! Wir haben unser Geld nötig, wir brauchen sowieso viel zu viel.“
„Ich nicht“, sagte er trocken. „Du brauchst zu viel. Kleider, Pelzmäntel, immer Neues und das Allermodernste. Und dann deine Reisen. Ich erinnere nur an Berlin, alle Nase lang Berlin!“
„Ich habe das nötig“, sagte sie aufbegehrend. „Das ewige Einerlei hier macht mich krank, martert mich zu Tode.“
Er sah sie finster an, sein jugendlich hübsches Gesicht zeigte plötzlich einen ganz anderen Ausdruck. „Dann hättest du mich nicht heiraten sollen. Ich habe dir ja gesagt, dass ich nichts mehr habe. Mein Bruder schickt auch nichts mehr, seit ich eine reiche Witwe geheiratet habe.“ Er hob das ‚reiche‘ besonders hervor mit einem anzüglichen Auflachen. „Wir haben uns eben getäuscht, uns selber was vorgemacht, du in deiner Liebe, ich mit meinem“ — er stockte — „nun mit meinem Wunsch, in den Sattel zu kommen. Wenn ich dreissigtausend Mark hätte, könnte ich mich morgen schon an einem glänzenden Unternehmen beteiligen: Baumaterialien, Schiefer aus rheinischen Schieferbrüchen, Ziegel aus der neuen Ziegelei bei Ketzin. Man könnte viel dabei verdienen. Vielleicht wird wieder eine neue Gedächtniskirche gebaut!“ Er sah sie fest und ausdrucksvoll dabei an. „Aber ich habe die Dreissigtausend ja nicht.“
„Na, dann nimm sie dir doch schon“, rief sie leichtsinnig und warf sich ihm an den Hals. „Ich bin nicht knickrig, wahrhaftig nicht. Nun hab’ mich aber auch wieder lieb!“ Sie suchte seinen Mund mit verlangenden Lippen. Und er küsste sie dann.
So endete es immer, jede Meinungsverschiedenheit, jeder Vorwurf, jede Auseinandersetzung, jede Ehezwistigkeit.
Oh, dass er doch diese alternde Verliebte nicht geheiratet hätte! Der Achtundzwanzigjährige empfand die Vierzigjährige wie eine Last. Er hatte es gleich in den ersten acht Tagen gewusst, dass er sie lieber nicht hätte heiraten sollen. Was hatte ihn nur dazu getrieben? Es gab so viele hübsche frische Mädchen, er wusste, dass er auf Frauen Eindruck machte, immer Eindruck, er brauchte gar keine besonderen Künste anzunwenden — aber diese Mädchen hatten alle kein Geld. Und er brauchte Geld, er wollte Geld. Schon von früher Jugend an wusste er den Wert des Geldes einzuschätzen. Als er noch auf nackten Füssen über die staubig-harte Landstrasse lief, die von der verfallenen Behausung des Vaters in die Stadt zur Schule führte, war er sich dessen bereits bewusst gewesen. Geld, Geld! Sein Vater war so heruntergekommen, dass er, statt selber noch Herr zu sein, die Schafe des Herrn hütete. Zweihundert weisse und schwarze Schafe, die mit ihrem dummen ‚bäh, bäh‘ dem Knaben Ekel einflössten. Nie hätte er so fleissig gelernt, so unermüdlich strebsam, wenn er ihnen nicht hätte entfliehen wollen. Die Gutsherrin hatte einen Narren an dem Jungen gefressen, der am Wege stand, wenn sie mit ihrem Dogcart an ihm vorbeifuhr und sie mit seinen Augen, die blau und blitzend wie Edelsteine waren, anstarrte. Sie war es, die das Schulgeld für ihn bezahlte. Sie half ihm auch weiter, sie brachte ihn beim Kaufmann in die Lehre; da wohnte er schlecht genug im Gewölbe zwischen Reissäcken und Heringstonnen, aber immer doch besser noch als daheim. Armselige Heimat, heruntergekommener Vater, verarbeitete Mutter mit schwarzen Fingernägeln und ungepflegten Haaren! Das lehrte ihn früh, dass man Geld haben muss. Er hasste diese Heimat; er trieb sich lieber nächtelang auf den Feldern herum, schon als Fünfjähriger, als dass er da untergeschlupft wäre. Nur wenn Schäfer Buss, ein alter weisshaariger Mann, seinen Vater aufsuchte, dann war er gern dabei. Mit weitaufgerissenen Augen, schwitzend vom angestrengten Aufhorchen, hörte er zu. Buss war ein Wunderdoktor, er heilte mit Tees, die er auf den Äckern sammelte, wenn der Mond voll war. Meilenweit kamen die Leute zu ihm gelaufen. Wenn die Tees nicht halfen, half sein Besprechen. Er hatte eine zwingende Gewalt über Mann und Frau, über Bursch und Mädchen. Er brauchte sie nur vor sich zu haben, ein blinkendes Stückchen Glas oder sonst etwas Blankes ihnen vorzuhalten: ‚Sieh hierher‘, oder auch nur zu sagen: ‚Sieh mir in die Augen‘, so bannte er sie. Und sie fielen in einen Schlaf, in dem sie dachten, sprachen und taten, alles genau so, wie er es wollte. Auch an dem Jungen ohne Schuh versuchte Buss seine Zauberkunst; er tat es unentgeltlich, aus Spass an einem gelehrigen Schüler. Und nicht nur wie man hypnotisiert auf primitivste Art, weit mehr lernte der Schüler: Menschen erkennen und sie bestimmen. Lernte ihr Schicksal in seine Hand nehmen.
Tom Till sah seine Frau mit einem Schimmer verächtlichen Bedauerns an: was war sie für eine hohle Nuss! Hätte er die doch bereits weggeworfen oder zertreten. Aber es fand sich schon einer, der sie ihm wieder abnahm — nur Geduld, Geduld! Sich noch nichts anmerken lassen von einer Ungeduld, die sich täglich mehr steigerte bis zur Abneigung. Die Törichte, die Eitle! Wie hatte er, er, der Berechnende, sich nur so festnageln lassen können von einer so dummen Frau! Warum hatte er sie nicht so stark beeinflussen können, dass sie ihm willig ihr Geld gab, auch ohne Standesamt und feierliche Trauung, ohne weissgekleidete Kinder, ohne Orangenblütenkranz und Tränen der Rührung?! An ihrer Heiratsversessenheit hatte die eigene Macht, an die er fest glaubte, zum erstenmal Schiffbruch erlitten. Aber nun sollte sie ihm auch die dreissigtausend Mark geben. Sie musste! Er hatte es satt, sich von ihr aushalten zu lassen, er musste, musste die günstige Gelegenheit ergreifen, um sich in die Baumaterialien-Firma, die momentan unter Geldknappheit litt, hineinzuschmuggeln. Er gierte nach einer Betätigung. War er denn nicht fähig genug, hatte er nicht Kraft und Lust zur Arbeit? Aber ohne Geld kann keiner etwas anfangen.
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