Er hatte Britta in den Wagen gehoben, ihr Köfferchen ins Gepäcknetz gestellt; ihr Blick hing an ihm. Es war niemand im Abteil, so zog er sie an sich und küsste sie, dann sprang er eilig ab. Der Zug rückte an, ein Pfiff, das Abfahrtssignal war gegeben, die Räder fingen an sich zu drehen. Gott sei Dank, jetzt fuhr Britta ab! Man sah noch ihr verweintes Gesicht aus dem Fenster blicken; sie lehnte sich weit hinaus, sie winkte mit ihrem nassgewordenen Tüchlein. Und auf dem Bahnsteig winkten auch zwei Taschentücher.
Tom schob seinen Arm unter den seiner Frau: „So, nun wollen wir zu deinem Justizrat Baum gehen!“
„Ach, ich bin gar nicht in der Stimmung“, sagte sie. Sie seufzte: „Das hat man nun geboren und erzogen, und das gibt man nun so ganz weit von sich fort!“
„Als ob Britta nicht immer weit von dir fortgewesen wäre!“
„Ehe du kamst, standen wir uns sehr nahe. Du bist zwischen uns getreten, du hast aus uns, die wir immer Eins waren, zwei Getrennte gemacht!“
„Du bist ja verrückt!“
Die versöhnliche Stimmung, die, seitdem sie ihm versprochen hatte, vor dem Notar ihm, ihm allein die Vertretung ihrer Angelegenheiten und die Verwaltung ihres Vermögens zu übertragen, standgehalten hatte, war auf einmal erschüttert. Die Frau war plötzlich nervös geworden: nein, das musste sie sich doch sehr überlegen, ob sie das wirklich tat. Und verrückt war sie nicht, wenn er sie auch verrückt nannte! Wie man einer Katze ein Knäuelchen hinwirft, um dann, am Faden zupfend, ihr das immer wieder zu entziehen, so machte es die Frau jetzt mit dem Mann; sie närrte ihn. Jetzt, hier, fürchtete sie ihn ja nicht. Sie würde ihren bisherigen treuen Berater, den Justizrat, zur Seite haben, und nachher, wenn Tom etwa im Zorn abbrechen sollte und nach Hause fahren, dann konnte sie noch hierbleiben und Vennhof treffen. Der war heute in Berlin. Im alten Absteigequartier würde sie ihn antreffen oder dort von ihm Benachrichtigung vorfinden. Sie reizte Tom Till unbeschreiblich. —
Nun waren sie beide beim Notar. Was, sie hätte gesagt, sie wollte ihm, ihm allein ihre Vermögensangelegenheiten übertragen? Daran erinnerte sich Frau Ingeborg auf einmal nicht mehr. Und wenn sie es vielleicht, vielleicht mal täte, dann doch auch nur unter der Kontrolle ihres bewährten Freundes, des Herrn Justizrats. Wer garantierte ihr denn, dass Tom auch etwas davon verstand, und ob er alles so verwaltete, so rechtlich und unegoistisch, wie es für ihre armen Kinder das vorteilhafteste war. ‚Meine Kinder, meine armen Kinder‘, war ihr steter Refrain.
Der Mann hätte sie am Halse packen mögen, sie würgen, bis ihr der Atem ausging. Mit Mühe nur beherrschte er sich.
Der Justizrat riet ihr ab, vor seinen Ohren ab, alles in die Hände ihres Ehemanns zu legen: „Der Herr Gemahl ist noch sehr jung, ihm fehlt noch die Erfahrung. Ich bin natürlich jederzeit bereit, ihm Einblick zu gewähren — aber es wäre vielleicht doch besser — sicher ist es besser — noch einige Jahre den status quo beizubehalten. Man kann nie wissen —!“ Der alte Herr lächelte, zog die Achseln hoch und blickte durch seine goldene Brille von einem der Ehegatten zum anderen.
Also abgelehnt! In Tom Till kochte es. Nun zu den dreissigtausend — sollten ihm die etwa auch nicht gegeben werden?! Er bohrte seinen Blick in die goldene Brille, aber rundgewölbte Gläser hielten diesen Blick schützend ab. Und sie, sie — hatte er denn alle Macht über sie verloren? Sie stand meist abgekehrt von ihm, hielt den Kopf so gewendet, dass er nur ihr verlorenes Profil sah und die kleinen Kräusellöckchen im Nacken. Er hatte selber von der ihm zugesagten Summe anfangen müssen, sie schien ihr Versprechen vollständig vergessen zu haben. Und es eilte, eilte doch sehr, sonst war ihm der Eintritt in die Firma unmöglich, oder es kam ihm ein anderer zuvor.
„Ja“, sagte der kluge Herr mit der goldenen Brille und zog das ‚ja‘ recht lang, „dreissigtausend Mark sofort auf den Tisch des Hauses, das ist ganz unmöglich. Sie sagen, Ihre Frau hätte es Ihnen bestimmt zugesagt? Wie kann man so leichtsinnig eine solche Summe zusagen! Sie hat anscheinend gar keine Ahnung von ihren Verhältnissen. Gewiss, sie hat noch soviel im Besitz, aber soviel fortzugeben, das ist etwas, was ich vor meinem Gewissen nicht verantworten kann. Man müsste Papiere verkaufen — sozusagen verschleudern — anders wäre es jetzt nicht möglich, es ist ein allzu ungünstiger Zeitpunkt. Oder den Anteil an der Apotheke, der nach dem Tod Bades noch beim Verkauf darauf stehengeblieben ist, flüssig machen? Das wäre ein Raub an den Kindern. Das Geld steht auf der gutgehenden Apotheke sicherer, als ich es irgendwoanders anlegen könnte.“
„Man kann eine Hypothek auf die Villa aufnehmen“, stiess der Mann heraus; er war sehr blass.
„Ja, das könnte man vielleicht“, sagte der Justizrat. „Aber an erster stelle steht schon eine Hypothek von fünfzehntausend; es wird sich kaum jemand finden, der an zweiter Stelle noch mehr riskiert.“
„So verkaufen Sie doch die ganze Villa, zum Donnerwetter! Es ist doch einträglicher, wenn ich mich an einem Unternehmen beteiligen kann, das gute Einnahmen abwirft, als dass wir in dieser alten Bude wohnen bleiben.“
„Nein, ich will aber darin wohnen bleiben“, schrie die Frau dazwischen. „Ich denke gar nicht daran, sie zu verkaufen. Bade hat sie damals für mich gebaut. Meine Villa ist keine Bude!“ Sie wendete sich gereizt gegen ihren Mann: „Wenn du nicht darin wohnen willst, dann kannst du ja woanders hinziehen. Ich bleibe darin. Solange ich lebe, wird sie nicht verkauft.“ Sie warf einen raschen Blick nach ihrem Mann, der hatte so seltsam aufgelacht. „Wenn ich sterben sollte, dann kannst du sie ja verkaufen. Aber nur mit Genehmigung meiner Kinder, Herr Justizrat, hören Sie! Ich weiss ja sowieso nicht, was aus meinen armen Kindern wird, wenn ich nicht mehr da sein sollte.“ Sie führte das Taschentuch an die Augen.
„Aber, gnädige Frau, was für Gedanken! Warum sollten Sie denn bald sterben? An so etwas denkt doch eine Frau in Ihren Jahren noch nicht!“ Der Justizrat warf einen scharfen Blick auf den jungen Mann, der stumm an ihrer Seite stand: woher solch sentimentale Anwandlungen? „Sie werden noch viele Jahre leben, gnädige Frau, und sich wie bisher Ihres Lebens freuen.“
Sie zuckte ohne Wort die Achseln.
Diese neue Ehe von Frau Ingeborg Bade schien ja nicht gerade eine sehr glückliche zu sein, dachte der Justizrat, als die beiden gegangen waren. — — —
Sie gingen die Treppe hinab, sie voran, er hinter ihr her. Also umsonst alle Mühe, die er sich gegeben, umsonst! Umsonst der Besuch hier beim Justizrat. Wo blieben die versprochenen dreissigtausend?! Nichts, gar nichts erreicht! Sollte er ihr jetzt nicht einen Stoss in den Rücken geben, dass sie die hohe Treppe hinabstürzte, sich auf deren Steinstufen das Genick brach? Im Büro hatte er sich zusammengenommen, seine Wut sich nicht anmerken lassen, hatte nur seine Hand zur Faust geballt und die Nägel der Finger in die Innenfläche gegraben, jetzt aber machte er einen Schritt neben sie, drängte sich dicht an sie heran: „Du hast mich ja schön blamiert da oben, du, du!“ Er hatte nach ihr gegriffen, bei jedem Wort bekam ihre Hand einen Ruck, dass ihr der Schmerz durch den ganzen Arm fuhr bis hinauf in die Schulter. Sein Gesicht war ganz bleich, aber sein Blick funkelte.
Wie ein Schlangenblick, dachte sie. Jetzt hatte sie auf einmal wieder Angst: niemand war bei ihr, um ihr zu helfen.
„Der Mann muss ja denken, ich massakriere dich“, zischte er sie an. „Was schwatztest du so dummes Zeug von sterben?“
„Ach, ich dachte“ — sie stotterte, sie hatte ja solche Angst vor ihm — „ach, ich habe das nur so gesagt aus Spass. Nur zum Spass!“
„Mir ist es aber kein Spass!“ Er fasste ihr Handgelenk fester, er hielt sie wie in einer Klammer: „Du hast mich ja schön blamiert da oben. Das sollst du mir bezahlen, du, du!“
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