Auf dieser Plattform erhebt sich eine riesige Flaggenstange, an der das Flaggentuch im schwachen Nordwinde flattert.
Welche Nationalität diese Flagge bezeichnet, vermögen unsere Pariser nicht zu ergründen. Auf den ersten Blick scheint es die amerikanische Flagge mit den waagrechten rotweißen Streifen zu sein; die obere innere Ecke enthält aber statt der siebenundsechzig Sterne, die zu jener Zeit am Firmament des Staatenbundes funkeln, nur einen einzigen: einen Stern oder vielmehr eine goldene Sonne, die von dem Himmelblau der Flaggenecke schimmert und mit dem Strahlenglanze des Tagesgestirns rivalisieren zu können scheint.
»Unsere Flagge, meine Herren«, sagt Calistus Munbar, der ehrerbietig das Haupt entblößt.
Sébastien Zorn und seine Kameraden können nicht umhin, es ihm nachzutun. Dann treten sie an die Brustwehr der Plattform heran, beugen sich hinaus …
Da entringt sich ihrer Brust ein lauter Aufschrei – erst der Überraschung und dann des hellen Zorns.
Vor ihren Blicken liegt das ganze Land, und dieses Land zeigt die Form eines regelmäßigen Ovals, das von einem Meereshorizonte eingefasst ist. Soweit der Blick schweifen kann, nirgends ist Land in Sicht.
Und doch sind Sébastien Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat gestern in der Nacht, nachdem sie das Dorf Freschal im Wagen des Amerikaners verlassen hatten, zwei Meilen weit stets dem Wege über Land gefolgt. Darauf haben sie, gleich im Wagen verbleibend, mittels der Fähre nur einen Wasserlauf überschritten und sind dann wieder auf festes Land gekommen. Hätten sie die Küste Kaliforniens auf einem Schiffe verlassen, so müssten sie das doch bemerkt haben …
Frascolin wendet sich voller Erregung an Calistus Munbar.
»Wir sind doch auf einer Insel?« fragt er.
»Wie Sie sagen«, bestätigte der Yankee, dessen Mund sich zum verbindlichsten Lächeln verzieht.
»Und welche Insel ist das?«
»Standard Island.«
»Und diese Stadt heißt …?«
»Milliard City.«
Standard Island
1 Angehörigen der sozialen Oberschicht <<<
2 nach François Rabelais, französischer Schriftsteller der Renaissance (1494–1553) <<<
3 durch den Wind hervorgerufener Seegang mit gleichmäßigen, lang gezogenen Wellen <<<
Fünftes Kapitel – Standard Island und Milliard City
Zu jener Zeit erwartete man noch einen unternehmenden Statistiker und gleichzeitigen Geographen, der die wirkliche Zahl der auf der Erdkugel verstreuten Inseln angegeben hätte. Es wird nicht übertrieben sein, wenn man diese Zahl zu mehreren Tausenden veranschlagt. Und unter diesen Inseln hätte sich keine einzige befunden, die den Wünschen der Gründer von Standard Island und den Bedürfnissen seiner späteren Bewohner entsprochen hätte? Nein, keine einzige! Daher der »amerikamechanisch« praktische Gedanke, eine nach allen Seiten neue, künstliche Insel herzustellen, die die vollkommenste Leistung der modernen Metallurgie bilden sollte.
Standard Island – was man etwa mit »Muster-Insel« übersetzen könnte – ist eine Schrauben- oder Propeller-Insel und Milliard City ihre Hauptstadt. Woher dieser Name stammt?… Offenbar daher, dass die Stadt die der Milliardäre, der Goulds, der Vanderbilts und der Rothschilds ist. Man wird hier einwenden, dass das Wort »Milliarde« in der englischen Sprache nicht vorkommt. Die Angelsachsen der Alten und der Neuen Welt sagen noch immer: a thousand millions , tausend Millionen. Milliarde ist ein französisches Wort. Dennoch ist es seit einigen Jahren in die Volkssprache Großbritanniens und der Vereinigten Staaten übergegangen und auf die Hauptstadt Standard Islands mit voller Berechtigung angewendet worden.
Eine künstliche Insel ist ja eine Idee, die an und für sich keine außergewöhnliche zu nennen ist. Mit hinreichender Menge von Material, das in einem Strome, einem See oder einem Meer versenkt wird, liegt es für Menschen nicht außer der Möglichkeit, eine solche herzustellen. Das hätte hier aber nicht genügt. Mit Rücksicht auf ihre Bestimmung, auf die Anforderungen, denen sie entsprechen sollte, musste diese Insel ihre Lage verändern können, also schwimmfähig sein. Hierin lag eine Schwierigkeit, die jedoch nicht über die Leistungsfähigkeit der Werkstätten für Eisenbearbeitung hinausging, denen Maschinen von sozusagen unbegrenzter Kraft zu Gebote standen.
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Amerikaner bei ihrer Vorliebe für das Große, ihrer Bewunderung für das »Enorme«, den Plan entworfen, mehrere hundert Kilometer vom Festlande in offener See ein riesenhaftes, durch Anker festgehaltenes Floß zu bauen. Das wäre, wenn auch keine Stadt, so doch im Atlantischen Meere eine Station geworden, mit Restaurants, Hotels, Theatern, Klublokalen usw., wo die Touristen alle Annehmlichkeiten der beliebtesten Badeorte gefunden hätten. Eben dieses Projekt war nun hier, nur in mehr vollkommener Weise, zur Ausführung gebracht … statt des festliegenden Floßes hatte man eine bewegliche Insel geschaffen.
Sechs Jahre vor der Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, war eine amerikanische Gesellschaft unter der Firma Standard Island Company limited mit einem Kapitale von fünfhundert Millionen Dollar (zwei Milliarden Mark), geteilt in fünfhundert Anteilscheine, gegründet worden, um die künstliche Insel herzustellen, die den Nabobs der Vereinigten Staaten alle die Vorteile bieten sollte, welche den an die Stelle gebundenen Gebieten der Erdkugel fehlen. Die Anteilscheine wurden schnell untergebracht, so zahlreich sind in Amerika die ungeheuern Vermögen, die der Ausbeutung der Eisenbahnen oder Bankoperationen, dem Ertrage von Petroleumquellen oder dem Handel mit gepökeltem Schweinefleisch entsprangen.
Die Herstellung der Insel nahm vier Jahre in Anspruch. Es dürfte hier angebracht sein, die wichtigsten Größenverhältnisse, die innere Einrichtung und die Apparate zur Fortbewegung anzugeben, die ihr gestatten, immer die angenehmsten Teile der ungeheuern Fläche des Stillen Weltmeeres aufzusuchen.
Schwimmende Dörfer gibt es in China auf dem Yang-Tse-Kiang, in Brasilien auf dem Amazonasstrome, in Europa auf der Donau und wenn man will, in kleinerem Maßstabe auf vielen schiffbaren Gewässern. Das sind aber nur für kurze Zeit berechnete Konstruktionen mit einigen Häuschen, die auf langen Flößen errichtet wurden. Am Bestimmungsorte angelangt, wird der Holzbau auseinandergenommen, die Häusergruppe abgebrochen und das Dörfchen hat ausgelebt.
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