Pinchinat und Frascolin tun diesem Frühstück alle Ehre an, mindestens ebenso viel wie Sébastien Zorn und Yvernes. Es versteht sich, dass Calistus Munbar nicht unterließ, es ihnen anzubieten, und es wäre doch unhöflich von ihnen gewesen, das nicht anzunehmen.
Der Yankee, dessen Mühle es nie an Wasser fehlt, entwickelt übrigens einen bestrickenden Humor. Er spricht von allem, was die Stadt betrifft, nur nicht von dem, was seine Gäste gern erfahren hätten, d.h. welche die unabhängige Stadt ist, deren Namen er zu nennen zögert. Etwas Geduld, er wird ihn schon verraten, wenn die Besichtigung des Ganzen zu Ende ist. Sollte er gar darauf ausgehen, das Quartett etwas berauscht zu machen, damit es den Abgang des Zuges nach San-Diego versäumte? Nein, doch nach der tüchtigen Mahlzeit trinken alle wacker drauflos, und ebenso sollte das Dessert noch mit einer Tasse Tee begossen werden, da erzittern die Fensterscheiben des Hotels von einer gewaltigen Detonation.
»Was war das?« fragte Yvernes emporschnellend.
»Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren«, antwortet Calistus Munbar, »das war die Kanone des Observatoriums.«
»Wenn sie nur die Mittagsstunde bezeichnen soll«, erwidert Frascolin nach seiner Uhr sehend, »so behaupte ich, dass der Schuss zu spät fiel …«
»Nein, Herr Bratschist, nein! Die Sonne geht hier ebensowenig wie anderswo vor oder nach!«
Dabei umspielt ein eigentümliches Lächeln die Lippen des Amerikaners, seine Augen funkeln unter dem Binokel, und er reibt sich recht sonderbar die Hände. Man möchte glauben, er beglückwünschte sich, einen guten Schelmenstreich ausgeführt zu haben.
Frascolin, der sich von der trefflichen Bewirtung weniger als seine Kameraden gefangennehmen lässt, sieht ihn misstrauischen Blickes an, ohne sich deshalb mehr klarzuwerden.
»Nun, liebe Freunde – Sie gestatten doch, dass ich mich dieser vertraulichen Anrede bediene –«, setzt er in liebenswürdigster Weise hinzu, »wollen wir wieder aufbrechen, um noch den anderen Teil der Stadt zu besuchen; ich käme in Verzweiflung, wenn Ihnen die geringste Einzelheit entginge. Wir haben keine Zeit zu verlieren …«
»Um wie viel Uhr geht denn der Zug nach San Diego ab?« fragt Sébastien Zorn, immer besorgt, seine Engagements nicht durch verspätetes Eintreffen zu verfehlen.
»Ja, welche Zeit?« wiederholt Frascolin dringender.
»O … erst am Abend«, antwortet Calistus Munbar mit dem linken Auge zwinkernd. »Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie! Sie werden es nicht bereuen, mich als Führer gehabt zu haben.«
Wie hätte man einer so zuvorkommenden Persönlichkeit nicht folgen sollen? Die vier Künstler verlassen den Saal des Exzelsior-Hotels und schlendern die Straße hinauf. Der Wein muss doch in etwas zu vollem Strome geflossen sein, denn in den Beinen verspüren sie jetzt eine Art Zittern. Der Erdboden scheint eine Neigung zu haben, ihnen unter den Füßen zu entfliehen, obwohl sie sich nicht auf einem der seitwärts weitergleitenden Trottoirs befinden.
»He! He! Halte mich ein – bisschen, Chatillon!« ruft taumelnd Seine Hoheit der Bratschist.
»Ich glaube, wir haben etwas zu viel getrunken«, stammelt Yvernes, indem er sich die Stirn abtrocknet.
»Lassen Sie’s gut sein, meine Herren Pariser, einmal ist ja nicht immer! … Wir mussten doch Ihre Ankunft begießen …«
»Und haben dabei die Gießkanne bis auf den Grund entleert!« fällt Pinchinat ein, der sich dabei nach Kräften beteiligt hat und noch niemals so guter Laune war wie heute.
Unter Leitung Calistus Munbars gelangen sie nun nach einem der Quartiere der zweiten Städthälfte. Hier herrscht weit mehr Leben von minder puritanischem Anstrich, so als wenn man urplötzlich aus den Nordstaaten nach den Südstaaten der Union, aus Chicago nach New Orleans, aus Illinois nach Louisiana versetzt worden wäre. Die Läden hier sind glänzender ausgestattet, die größeren Wohnhäuser sind eleganter, die Villen komfortabler, die Paläste und Hotels ebenso großartig wie in dem protestantischen Stadtteile, und dazu noch von bestrickenderem Aussehen. Auch die Bevölkerung unterscheidet sich durch ihre Haltung, wie ihr Auftreten und Benehmen. Man möchte glauben, hier in einer Doppelstadt, ähnlich den bekannten Doppelsternen zu sein, bis auf den Unterschied, dass sich die beiden Hälften nicht umeinander drehen.
So ziemlich im Herzen der zweiten Hälfte angelangt, bleibt die Gruppe etwa in der Mitte der Fünfzehnten Avenue stehen, und Yvernes ruft:
»Meiner Treu, das ist ein wirklicher Palast!«
»Das Palais der Familie Coverley«, antwortet Calistus Munbar. »Nat Coverley, der Nebenbuhler Jem Tankerdons …«
»Und reicher als dieser?« fragt Pinchinat.
»Das nicht, aber ebenso vermögend«, erklärt der Amerikaner. »Ein Ex-Bankier aus New Orleans, der mehr Hunderte von Millionen als Finger an den Händen besitzt.«
»Ein hübsches Paar Handschuhe, lieber Herr Munbar!«
»Wie Sie das nehmen wollen.«
»Und die beiden Notabeln, 1Jem Tankerdon und Nat Coverley, sind natürlich Feinde …«
»Mindestens Rivalen, die beide in städtischen Angelegenheiten ihr Übergewicht geltend zu machen streben und aufeinander eifersüchtig sind …«
»Und sich schließlich auffressen werden?« fragt Sébastien Zorn.
»Vielleicht, und wenn einer den anderen verschlingt …«
»Das wird einem einen ordentlich verdorbnen Magen geben!« meint die Bratsche.
Calistus Munbar schüttelt sich vor Lachen über den Scherz.
Die katholische Kirche erhebt sich auf einem großen Platze, der ihre glücklich getroffenen Verhältnisse zu bewundern gestattet. In gotischem Stil erbaut, braucht man nicht zu weit zurückzuweichen, um sie betrachten zu können, denn die lotrechten Linien, denen jener Stil seine Schönheit verdankt, verlieren von weither gesehen ihren Charakter. Saint-Mary-Church verdient Bewunderung wegen der Schlankheit ihrer Pinakeln, der Leichtigkeit ihrer Rosetten, wegen der Eleganz ihrer gerippten Wölbungen und der Schönheit ihrer Fenster mit verschlungenem Rankenwerk.
»Ein schönes Beispiel angelsächsischer Gotik!« lässt sich Yvernes vernehmen, der ein begeisterter Liebhaber der Architektonik ist. »Sie hatten recht, Herr Munbar, die beiden Stadthälften gleichen einander ebensowenig, wie der Tempel der einen der Kathedrale der anderen!«
»Und doch, Herr Yvernes, sind die beiden Hälften von einundderselben Mutter geboren …«
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