»Wir befinden uns jetzt in der Third Avenue, und deren hat die Stadt dreißig. Diese hier, die an Verkaufsläden reichste, bildet unseren Broadway, unsere Regent-Street, unsere Große Friedrichsstraße oder unseren Boulevard des Italiens. In ihren Magazinen und Bazaren findet man das Überflüssige neben dem Notwendigen, alles, was für verfeinertes Wohlleben und modernen Komfort nur irgend verlangt werden kann.«
»Wir befinden uns jetzt in der Third Avenue …«
»Die Magazine sehe ich wohl«, bemerkt Pinchinat, »doch keine Einkäufer …«
»Vielleicht ist es noch zu früh am Morgen …?« setzt Yvernes hinzu.
»Nein, das kommt daher«, antwortet Calistus Munbar, »dass die meisten Bestellungen telefonisch oder auch telautografisch erfolgen …«
»Telautografisch?… Was bedeutet das?« fragt Frascolin.
»Das bedeutet, dass wir vielfach den Telautografen benützen, einen sinnreichen Apparat, der die Handschrift ebenso überträgt, wie das Telefon die Sprache, ohne den Kinetografen zu vergessen, der alle Bewegungen nachbildet und für das Auge dasselbe ist, was der Phonograph für das Ohr ist – und endlich das Telefot, das jedes Bild wiedergibt. Der Telautograf bietet eine weit größere Sicherheit als die einfache Depesche, mit der jeder Beliebige Missbrauch treiben kann, deshalb können wir auf elektrischem Wege Bestellungen aufgeben und Rechnungen senden oder Verträge schließen …«
»Auch Eheverträge vielleicht …«, unterbricht ihn Pinchinat ironischen Tones.
»Gewiss, Herr Bratschist. Warum sollte man sich nicht mittels elektrischen Drahtes verheiraten können …«
»Und auch wieder scheiden?…«
»Auch wieder scheiden! Das kommt sogar noch häufiger vor!«
Der Cicerone lacht dazu so unbändig, dass alle Schmuckgegenstände an seiner Weste zittern und klirren.
»Sie sind recht lustiger Natur, Herr Munbar«, sagt Pinchinat, der von der Heiterkeit des Amerikaners angesteckt wird.
»Warum nicht? Wie ein Schwarm Buchfinken an einem sonnigen Tage!«
Jetzt zeigt sich eine größere Querstraße. Es ist die Neunzehnte Avenue, aus der jeder Handelsverkehr verbannt ist. Durch dieselbe verlaufen, wie durch die anderen, zwei Trambahngleise. Schnell rollen die Wagen darüber hin, ohne ein Körnchen Staub aufzuwirbeln, denn die mit einem unveränderlichen Belag von Karry oder australischem Jarraholz – warum nicht von brasilianischem Mahagoni? – versehene Straßenfläche ist so sauber, als hätte man sie mit Schmirgelpapier abgerieben. Frascolin, der alle physikalischen Erscheinungen scharf beobachtet, meint, dass sie unter den Füßen fast einen metallischen Klang hören lasse.
»Das sind offenbar großartige Eisenindustrielle!« sagt er für sich. »Nun stellen sie gar die Fahrwege aus Eisenguss her!«
Eben wollte er sich bei Calistus Munbar darüber näher unterrichten, als dieser ausrief:
»Sehen Sie sich dieses Hotel an, meine Herren!«
Er zeigt dabei nach einem umfänglichen und großartigen Bauwerk, dessen Seitenflügel, die einen Schmuckhof begrenzen, durch ein Gitter aus Aluminium verbunden sind.
»Dieses Hotel, man könnte sagen, dieser Palast wird von einer der ersten Familien der Stadt bewohnt. Ich erwähnte Ihnen bereits Jem Tankerdon. Der Mann ist Eigentümer unerschöpflicher Petroleumquellen in Illinois und der reichste und deshalb der ehrbarste und verehrteste unserer Mitbürger …«
»Mit einem Vermögen von Millionen?« fragt Sébastien Zorn.
»Pah!« stieß Calistus Munbar hervor. »Eine Million ist für uns so viel wie ein Dollar, und deren gibt’s hier Hunderte! In unserer Stadt wohnen manche überreiche Nabobs. Damit erklärt es sich, dass die Kaufleute in den Handelsvierteln bald ein Vermögen machen … ich meine die Detailhändler, denn von Großhändlern findet sich auf diesem, in der Welt einzig dastehenden Mikrokosmos kein einziger …«
»Aber Industrielle?« fragte Pinchinat weiter.
»Industrietreibende gibt es hier nicht!«
»So doch wohl Reeder!« 3ließ sich Frascolin vernehmen.
»Ebensowenig!«
»Also lauter Rentiers!« sagte darauf Sébastien Zorn.
»Nichts als Rentiers, neben Kaufleuten, die im besten Zuge sind, sich eine schöne Rente anzusammeln.«
»Nun, aber Handwerker doch auch?« bemerkte Yvernes.
»Wenn man Handwerker braucht, lässt man sie von auswärts kommen, und wenn die Leute fertig sind, kehren sie wieder zurück … natürlich mit einem hübschen Batzen Geld in der Tasche.«
»Doch selbstverständlich, Herr Munbar«, sagte Frascolin, »haben Sie auch einige Arme in Ihrer Stadt, und wäre es nur, um die Rasse nicht ganz aussterben zu lassen.«
»Arme, mein Herr zweiter Geiger?… Von solchen würden Sie keinen einzigen entdecken!«
»So ist das Betteln wohl strengstens verboten?…«
»Zu einem solchen Verbote fehlte jede Veranlassung, da die Stadt Bettlern gar nicht zugänglich ist. So etwas passt für die Städte der Union mit ihren Stiften, Asylen und Arbeitshäusern … und mit den Besserungsanstalten, die jene vervollständigen …«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie keine Gefängnisse hätten?«
»So wenig, wie wir Gefangene haben.«
»Doch mindestens Verbrecher oder Übeltäter?«
»Diese ersuchen wir, in der Alten oder der Neuen Welt zu bleiben, wo sie ihrem Berufe unter günstigeren Umständen obliegen können.«
»Wahrhaftig, Herr Munbar«, rief Sébastien Zorn, »Ihren Worten nach würde man kaum glauben, sich in Amerika zu befinden.«
»Da waren Sie noch gestern, Herr Violoncellist«, antwortet dieser merkwürdige Cicerone.
»Gestern?« versetzt Frascolin, bemüht, sich den Sinn dieser dunkeln Rede zu deuten.
»Gewiss! Heute befinden Sie sich in einer ganz unabhängigen, freien Stadt, auf die die Union gar kein recht hat, die nur sich selbst regiert …«
»Und deren Name lautet …?« fragt Sébastien Zorn, bei dem schon die angeborene Reizbarkeit durchzubrechen anfängt.
»Deren Name?« antwortet Calistus Munbar. »Gestatten Sie mir, ihn vorläufig noch zu verschweigen.«
»Und wann werden wir ihn erfahren?«
»Wenn Sie den Besuch der Stadt vollendet haben, worüber sie sich übrigens sehr geschmeichelt fühlen wird.«
Dieser so zurückhaltende Amerikaner ist mindestens ein eigenartiger Mann. Alles in allem kommt nicht so viel darauf an. Vor der Mittagsstunde wird das Quartett seinen merkwürdigen Spaziergang vollendet haben, und wenn es den Namen der Stadt auch erst im Augenblick der Abreise davon erfährt, kann es sich jawohl damit begnügen. Auffällig an der Sache ist nur eines: Wie kommt es, dass eine so bedeutende Stadt an der Küste Kaliforniens liegt, ohne der Föderation der Vereinigten Staaten anzugehören, und ferner, wie sollte man es erklären, dass der Führer der Kutsche nicht darauf gekommen war, ihrer Erwähnung zu tun? Das wichtigste bleibt es immerhin, dass die vier Künstler vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden in San Diego eintreffen, wo ihnen dieses Rätsel schon gelöst werden wird, im Falle, dass Calistus Munbar sich nicht dazu herbeiließe.
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