Diese wunderliche Persönlichkeit hat sich aufs neue ihrer wortreichen Beschreibungslust hingegeben, nicht ohne durchblicken zu lassen, dass sie sich auf weitere Erklärungen nicht einzulassen wünscht.
»Meine Herren«, sagt der Amerikaner, »hier stehen wir nun am Eingange zur Siebenunddreißigsten Avenue. Betrachten Sie die bezaubernde Perspektive! Auch hier gibt es keine Magazine oder Bazare, so wenig wie den Straßentrubel, der sonst die Handelstätigkeit kennzeichnet. Nur große Privatwohungen; die Insassen derselben sind aber nicht so vermögend, wie die der Neunzehnten Avenue, es sind mehr kleine Rentiers mit zehn bis zwölf Millionen …«
»Arme Schlucker, nicht wahr?« spöttelt Pinchinat, dessen Lippen sich zu einem mitleidigen Lächeln verziehen.
»Oho, Herr Bratschist«, erwidert Calistus Munbar, »einem anderen gegenüber kann man immer ein halber Bettler sein. Ein Millionär ist ja schon reich gegen den, der nur hunderttausend Francs besitzt; er ist es aber nicht gegen den, der hundert Millionen sein eigen nennt!«
Wiederholt konnten unsere Künstler bemerken, dass von allen Wörtern, die ihr Cicerone gebrauchte, das Wort »Million« – ein Wort von wahrhaft zauberischer Wirkung – am häufigsten wiederkehrte. Beim Aussprechen desselben blies er die Backen so stark auf, dass es einen richtig metallischen Klang bekam. Es schien fast, als prägte er beim Sprechen schon Goldstücke aus. Sind es auch keine Diamanten, die seinen Lippen, wie dem Munde des Patenkindes der Feen Perlen und Smaragde, entquellen, so sind es mindestens vollwertige Goldstücke.
Noch immer spazieren Sébastien Zorn, Pinchinat, Frascolin und Yvernes durch die merkwürdige Stadt, deren geographische Bezeichnung ihnen noch unbekannt ist. Hier belebte Straßen mit einer Menge Menschen in höchst anständiger Kleidung, ohne dass das Auge jemals durch die Lumpen eines Verarmten verletzt wird. Überall Tramwagen, Karren und andere Gefährte, die alle mittels Elektrizität bewegt werden. Einzelne große Verkehrsadern sind mit beweglichen Trottoirs versehen, die mittels einer endlosen Kette im Kreise laufen und worauf die Leute so lustwandeln, als ob sie in einem fahrenden Bahnzuge hin und her gingen, an dessen Eigenbewegung sie natürlich teilnehmen.
Außerdem verkehren besondere elektrische Wagen, die auf der Straße so sanft wie die Bälle auf der Billardtafel dahinrollen. Equipagen im eigentlichen Sinne des Wortes, also Wagen für ausschließliche Personenbeförderung, die von Pferden gezogen werden, trifft man nur in den allerreichsten Stadtteilen.
»Ah, da ist auch eine Kirche!« ruft Frascolin.
Er zeigt dabei nach einem sehr massiven Bauwerke ohne hervortretenden architektonischen Stil, eine Art »Savoyischer Pastete«, die man in die Mitte eines Platzes mit üppigen Rasenflächen gesetzt hat.
»Das ist der protestantische Tempel«, erklärt Calistus Munbar, während er vor dem Gebäude haltmacht.
»Gibt es in Ihrer Stadt auch katholische Kirchen?« fragt Yvernes.
»O ja. Übrigens muss ich Ihnen bemerken, dass wir in unserer Stadt, obwohl es auf der Erde gegen tausend verschiedene Religionen gibt, nur dem Katholizismus oder dem Protestantismus huldigen. Es ist hier nicht so wie in den Vereinigten Staaten, die durch die Religion – wenn nicht schon durch die leidige Politik – veruneinigt werden und wo es ebenso viele Sekten wie Familien gibt, wie z.B. Methodisten, Anglikaner, Presbyterianer, Anabaptisten, Wesleyaner usw. – Hier leben nur Protestanten vom calvinistischen Bekenntnis oder römische Katholiken.«
»Und welcher Sprache bedient man sich meist?«
»Englisch und französisch werden gleich geläufig gesprochen.«
»Unseren Glückwunsch dazu!« sagt Pinchinat.
»Die Stadt ist deshalb«, fährt Calistus Munbar fort, »in zwei annähernd gleiche Hälften geteilt. Hier befinden wir uns …«
»In der westlichen Hälfte, glaub’ ich?« fällt Frascolin ein, der sich nach dem Stande der Sonne orientiert.
»In der westlichen?… Nun ja, wenn Sie wollen …«
»Wie?… Wenn ich will?« erwidert die zweite Geige, sehr erstaunt über eine solche Antwort. »Verändern sich denn die Himmelsrichtungen der Stadt nach dem Wunsche jedes Beliebigen?«
»Ja und nein …« antwortet Calistus Munbar. »Doch davon später. Ich komme also auf diese Stadthälfte zurück … auf die westliche, wenn es Ihnen so beliebt, ausschließlich bewohnt von Protestanten, die auch hier immer praktische Leute geblieben sind, während die raffinierteren, mehr der Fantasie nachgebenden Katholiken die andere Hälfte einnehmen. Ich sagte Ihnen schon, dass das Gebäude vor uns der protestantische Tempel ist.«
»So sieht er auch aus. Bei seinem schwerfälligen Baustile kann das Gebet darin keine Erhebung empor zum Himmel, sondern muss eine Herniederbeugung zur Erde sein …«
»Gut gebrüllt, Löwe!« ruft Pinchinat. »Doch in einer so modern ausgestatteten Stadt, Herr Munbar, kann man wohl auch die Predigt oder die Messe durch das Telefon anhören?«
»Ganz richtig.«
»Und kann auch telefonisch beichten?…«
»So wie man sich mittels Telautografen verheiraten kann, und Sie werden zugeben, dass das eine sehr praktische Einrichtung ist.«
»Das will ich meinen, Herr Munbar«, bestätigt Pinchinat, »praktisch aus dem ff!«
1 Rasthaus an einer Karawanenstraße <<<
2 Die äußere Erscheinung von Lebewesen, insbesondere des Menschen und hier speziell die für einen Menschen charakteristischen Gesichtszüge. <<<
3 Schiffseigner <<<
Viertes Kapitel – Das verblüffte Konzert-Quartett
Um elf Uhr und nach einem so langen Spaziergange ist es gestattet, Hunger zu haben. Unsere Künstler machen von dieser Erlaubnis auch überreichlich Gebrauch. Ihre Mägen knurren im Ensemble und sie selbst harmonieren alle darin, um jeden Preis frühstücken zu müssen.
Das ist auch die Ansicht Calistus Munbars, der ebenso wie seine Gäste der täglichen Nahrungszufuhr bedarf. Da fragten sich die Künstler, ob sie bis nach dem Exzelsior-Hotel zurückkehren sollten.
Ja, denn in der Stadt scheint es nicht viele Restaurants zu geben, und offenbar zieht es jedermann vor, sich auf sein Home zu beschränken. Der Verkehr von Touristen aus beiden Welten ist allem Anscheine nach auch sehr gering.
Binnen wenigen Minuten befördert ein Tramwagen die Hungernden nach ihrem Hotel, wo sie an einer vollbedeckten Tafel Platz nehmen. Hier zeigt sich ein erstaunlicher Gegensatz zu den gewöhnlichen amerikanischen Mahlzeiten, bei denen die Vielheit der Gerichte über deren mangelnde Güte hinwegtäuschen muss. Das Rind- und Hammelfleisch ist vorzüglich; das Geflügel zart und duftend; der Fisch von verlockender Frische. Dazu gibt es, statt des Eiswassers in den Restaurants der Union, verschiedene treffliche Biere und Weine, die unter den Sonnenstrahlen der Rebenhügel von Médoc und Burgund gereift waren.
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