Dazu passten sein forsches Auftreten und seine laute, bellende Stimme. Susanne Findeisen war nie richtig klar geworden, mit wem sie es da wirklich zu tun hatte. Weder sie noch irgendjemand aus dem Kollegenkreis war jemals zu dem privaten Saalfelder durchgedrungen. Man wusste lediglich, dass er verheiratet und kinderlos war, dann endete die allgemeine Saalfelder-Kenntnis.
»Freut mich, Sie wieder einmal hier zu haben, Frau Hauptkommissarin.« Sein Auftreten entsprach der alten Schule und war über jede Kritik erhaben.
»Freut mich ebenfalls, lieber Doktor. Obwohl der Anlass ja wie immer ein sehr trauriger ist.«
Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Ja, ja. Wie immer, wenn ich einen so jungen Menschen sehe, bin ich besonders erschüttert. Daran werde ich mich niemals gewöhnen.« Mit sachlichem Gestus wies er auf eine der blankmetallenen Pritschen im Rückraum des großen, weiß gekachelten Saals. »Wollen wir?« Auf ihre nickende Zustimmung zog er mit einem Ruck das weiße Laken ab.
Findeisen betrachtete die Tote. Was immer sie im Leben gewesen war, wie attraktiv, wie stark sie gefunkelt haben mochte in ihrem Umfeld – der Tod hatte sie zu einem Gegenstand degradiert. Sie wirkte-klein und mager, und ihre Haut war fast so weiß wie das Laken, unter dem sie gelegen hatte. Die Polizistin sah die Schnitte, wo Saalfelder aktiv gewesen war. Sie sah die Stummel der Handgelenke, nun blutleer. Jemand hatte die abgetrennten Hände direkt daneben gelegt, mit etwas Abstand, aber in etwa an die Stelle, an der man sie erwartet hätte.
»Kein leichter Tod.«
Saalfelder zuckte kühl mit den Achseln. »Nicht viel schlimmer als das, was wir sonst hier so haben. Die Hände wurden mit einer scharfen Klinge abgetrennt, Schwert, Säbel, Machete – was genau, ist uns noch unklar. Sie ist dann eine ganze Strecke gelaufen, das wissen Sie ja schon. Schließlich wurde sie zu schwach und brach dort zusammen, wo sie gefunden wurde. Es liegen keine Anzeichen für ein Sexualdelikt vor, Vagina, Mund, After, alles tiptop, ohne entsprechende Spuren.«
»Gibt es Fesselspuren?«
»An Händen und Füßen.«
Findeisen tippte sich mit dem Fingernagel an die Schneidezähne. Sie tat das oft, wenn sie nachdachte. »Sie wurde also in den Waldpark gebracht, dort hackte man ihr die Hände ab, dann ließ man sie in den Tod laufen.«
Saalfelder blinzelte sie durch seine dicken Brillengläser an. »In den Tod laufen. Sehr poetisch ausgedrückt. So muss es gewesen sein.«
Eine Weile standen sie da und sahen die Tote an. Ein junges Mädchen, hübsches Gesicht, gute Figur. Sicher gab es Freunde und viele Männer, die sie bewundert hatten und gerne kennen gelernt hätten. Freundinnen, die nicht so gut aussahen und sie beneideten. Eltern, die stolz auf sie waren. Man hatte sie wahrgenommen, sie hatte einen Platz im Leben vieler Menschen gehabt.
Jetzt war sie fort.
Saalfelder nahm die Brille ab und begann, sie akribisch mit einem Taschentuch zu putzen. Sie war nicht schmutzig oder verschmiert gewesen. »Da ist noch etwas. Vor ihrem Tod hat sie noch eine komplette Mahlzeit zu sich genommen. Irgendwas mit Krabben, Chateaubriand, Mousse au Chocolat als Dessert. Das Ganze mit Rotwein und Cognac am Ende. Offenbar in einem der besseren Lokale der Region, wenn ich die Qualität anhand des Magen- und Darminhalts richtig beurteilt habe.«
»Wie lange vor ihrem Tod war das?«
»Etwa zwölf Stunden.«
»Das hilft uns nicht. In zwölf Stunden kommt man sehr weit.«
Saalfelder schob die Brille wieder an ihren Platz. »Der Körper wies eine Reihe von Abschürfungen auf, die mit rotem Lehm verunreinigt waren. Die Wunden waren alle sehr oberflächlich, zumeist an Armen, Beinen und Hüften.«
»Kampfspuren?«
»Nein, dazu sind sie nicht tief genug. Es ist, als sei sie wiederholt an etwas gestoßen oder gestoßen worden, das mit rotem Lehm bedeckt war. Der Kraftaufwand dabei war eher gering. Ich kann mir das im Moment noch nicht erklären.«
Findeisen überlegte. Nirgendwo im Waldpark – soweit sie es wusste – gab es roten Lehm.
Saalfelder räusperte sich. »Ach ja, wir konnten auch ein Schlafmittel im Magen nachweisen. Offenbar wollte der Täter sich nicht allein auf die Wirkung des Weines verlassen. Wie stark es bei ihr wirklich gewirkt hat, werden die weiteren Untersuchungen ergeben.«
Findeisen hatte sich die Frage »Wer macht so was?« schon lange abgewöhnt. Es gab immer jemanden, der es machte, und die Gründe waren selten nachvollziehbar. Menschen, die Mord als Lösung für ein Problem sehen konnten, hatten sich zwar von der allgemein gültigen Moral sehr weit entfernt, handelten aber nach einer bestimmten Logik: Ich töte jemanden, und dann passiert dieses und jenes (oder es passiert eben nicht), das mir zum Vorteil gereicht. Das war noch leicht. Sie seufzte. Der neue Fall sprach aber eine andere Sprache. Das war keine bloße Beseitigung gewesen, dazu waren die Umstände zu bizarr. Sie konnte sich vage vorstellen, was in dem jungen Mädchen vorgegangen sein musste, während sie schon ohne Hände vor ihrem Peiniger davonlief. Angst und Panik, das Bewusstsein, irreparabel verletzt zu sein, der furchtbare Schmerz, das langsame Versagen der Kräfte, der Sturz – das Bewusstsein, dass ihr Blut und damit ihre Lebenszeit im Waldboden versickerten.
Das Bewusstsein, zu sterben.
»Wie lange kann es gedauert haben?«
»Nur ein paar Minuten. Sie wurde ohnmächtig und stürzte, und dann war es auch schon vorbei.«
»Kann es ein Täter gewesen sein, oder müssen wir von mehreren ausgehen?«
Saalfelder rollte kurz die Augen nach oben, als müsse er einige komplizierte Berechnungen anstellen. »Das Schlafmittel war nicht sehr konzentriert. Geht man davon aus, dass sie sich stark gewehrt hat, dann sind es meiner Ansicht nach mindesten zwei gewesen. Einer, der sie festgehalten hat, und einer, der ihr die Hände abtrennte«, antwortete er dann, dabei sah er sie an, als wolle er sagen, jetzt habe ich es dir aber noch mal so richtig schwierig gemacht.
In der Tat, so war es auch. Verbrechen wie dieses waren meist die Handlung von geisteskranken Einzeltätern. Es war äußerst selten, dass sich zwei mit der gleichen Passion zusammenfanden und sozusagen im Team arbeiteten.
»Es ... muss etwas wie einen Klotz, ein Hackbrett gegeben haben, auf dem die Gelenke aufgelegt wurden. Ein Widerstand, sonst hätten sich die Knochen nicht durchtrennen lassen. Entsprechende Druckspuren gibt es an den Gelenken.« Jetzt klang die Stimme des Pathologen eher mutlos, als hätte er vor den Abgründen der Welt kapituliert.
In die Stille, die sich zwischen Saalfelder und Susanne Findeisen einstellte, tröpfelten nach einer kleinen Weile Schritte. Leise zunächst, dann immer lauter erfüllten sie den Gang vor der Pathologie. Konnten Schritte traurig sein? Sie klangen jedenfalls so – langsam, verhalten, zögernd, so würde man auf einer Beerdigung voranschreiten.
Wertheim betrat den Raum, wie immer picobello in Schale. Neben ihm ging eine zierliche, etwa vierzig Jahre alte Frau mit geröteten Augen. Sie war nachlässig gekleidet und sah aus, als hätte man sie sehr unvermutet aus häuslicher Tätigkeit gerissen und hierher geführt.
Saalfelder deckte ganz ruhig wieder das Laken über die Leiche.
Wertheim wies mit der Hand auf die Frau. »Das ist Frau Ströbel aus Neckarau. Ihre Tochter wird seit vier Tagen vermisst. Hauptkommissarin Findeisen, sie leitet die Ermittlungen in dem neuen Fall. Doktor Saalfelder, unser Pathologe.«
Auch diese Vorstellungen wurden durch knappe Handzeichen auf die genannte Person begleitet.
Saalfelder verbeugte sich kurz und trat dann zurück, als wolle er mit der Besucherin und ihrem Anliegen so wenig wie möglich zu tun haben.
Findeisen nahm die ausgestreckte Hand der Frau; sie war eiskalt, der Händedruck matt und kraftlos. »Danke, dass Sie gekommen sind. Wir wissen nicht ... Es ist nur ... diese Ähnlichkeit mit der Beschreibung Ihrer Tochter.« In so etwas war sie noch nie gut gewesen. Wenn es darum ging, in sensiblen Situationen Worte zu finden, schnitt sie meist ganz gut ab, aber angesichts von Trauer und Leid büßte sie diese Fähigkeit komplett ein. »Hatte Ihre Tochter ...«
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