Der Schwarze Sigurd kämpfte sich auf das Regal, schüttelte sich, sodaß es nach allen Seiten spritzte und schaute zornig in den Schaum.
"Ich glaubte, man kann darauf gehen," schmollte er.
"Sigurd. Das ist Seifenschaum. Man kann auf Seifenschaum nicht laufen."
"Du bist so klug, Fister," antwortete Sigurd.
Jesper schmierte vier Scheiben Weißbrot. Zwei mit Leberpastete und zwei mit Schokolade. Er legte sie auf einen Teller und setzte sich an den Tisch bei der Wand.
Sigurd war erleichtert und flog hinüber. Daraufhin verspeisten die beiden jeder zwei der Brote, ohne ein Wort zu sprechen. Als sie fertig waren, kam Jespers Mutter zu ihnen hinaus. Sie konnten sehen, das sie ihr Haar gekämmt hatte, denn es war nicht mehr unordentlich.
"Zauberhaft..." schmatzte Sigurd und warf ihr einen langen Blick zu.
"Oh, danke, Sigurd," antwortete Jespers Mutter und ging summend in der Küche herum, damit Sigurd sie richtig anschauen konnte.
"Wir verduften, Sigurd." Jesper flüsterte, damit sie es nicht hören konnte.
"Na, dann gute Nacht liebe Frau." Sigurd verbeugte sich mit dem einen Flügel vor seiner Vogelbrust vor ihr.
"Und träumen sie etwas Schönes."
Jespers Mutter klatschte in die Hände und lächelte, und während sie das tat, seufzte sie vor sich hin.
Sie hörten Jespers Vater in der Stube. "Sowas Albernes..." Das war, was er sagte. Jesper wußte, daß sie so nicht länger wietermachen konnten.
"Gute Nacht," sagte er und wanderte aus der Küche und die Treppe hinauf, mit dem Schwarzen Sigurd auf der Schulter.
"Gute Nacht, ihr beiden," sagte seine Mutter. Sein Vater schielte mit zusammengekniffenen Augen hinter ihnen her. Sie meinten beide, eine schwarze, glimmernde Donnerwolke über seinem Kopf sehen zu können, obwohl da natürlich gar nichts war.
Als sie in Jespers Zimmer in Sicherheit waren, beeilte er sich in seinen Schlafanzug zu kommen und krabbelte ins Bett. Nachdem er das Licht gelöscht und sich unter der Decke zurechtgelegt hatte, fiel ihm ein, daß sie noch gar nichts besprochen hatten.
Der Schwarze Sigurd hatte sich auf der Decke über seiner Brust niedergelassen. Er saß im Licht von der Straßenlaterne draußen und schaute auf den Jungen.
"Was jetzt?" flüsterte Jesper.
"Das frag ich mich auch," krächzte Sigurd.
"Du hattest einen Plan, aber du wolltest erst etwas zu essen haben," sagte Jesper. Sigurd kam es vor, als wäre da plötzlich etwas Drohendes in seiner Stimme.
"Ja, das ist auch richtig," zischte er. "Wie vergesslich ich doch bin!"
Sie schwiegen ein wenig. Sigurd dachte nach. Dann lehnte er sich über die Bettdecke, starrte ihm in die Augen und flüsterte so leise, daß kein anderer auf der ganzen Welt es hören konnte: "Es gibt einen Platz, jenseits von allem, was Erwachsene begreifen - weit hinter der äußersten Grenze ihrer Vorstellungskraft - ein Land, wo die merkwürdigsten Dinge wachsen und wo es so starke Kräfte gibt, daß meine Federn schrumpfen und zu kleinen, trockenen Plättchen werden, wenn ich nur daran denke."
Sigurd seufzte laut auf der Bettdecke.
"Also," setzte er nach einer kleinen Pause fort. "Es ist nicht immer das das Richtige, was die Augen sehen. Aber was das Herz fühlt, das ist, was wahr ist. "
Jesper lauschte.
"Wir müssen dorthin reisen," flüsterte der Schwarze Sigurd.
"Was ist dann mit der Schule?" wandte Jesper Aksel Bergmann ein, weil er so ein pflichtbewußter Junge war.
"Schule?" Sigurd ließ sich mit den Flügeln zur Seite auf den Rücken fallen. Und dann lachte er, sodaß es im ganzen Zimmer dröhnte.
Jesper Aksel Bergmann fühlte sich ziemlich dumm.
Sigurd kam wieder auf seine Brust gekrabbelt und unterdrückte sein Lachen.
"Die Schule kann warten, Fister. Hier geht es um Leben und Tod!"
"Wahr genug, Sigurd."
"Du mußt dich wieder anziehen," flüsterte Sigurd.
"Nun habe ich gerade all mein Zeug ausgezogen," protestierte Jesper.
"Schnick schnack," sagte Sigurd, "red jetzt keinen Quatsch, Fister."
Jesper krabbelte aus dem Bett, zog sein Zeug an und holte eine wollene, gestrickte Jacke aus der Kommode. Darauf nahm er sein Taschenmesser und steckte es in die Tasche. Man wußte ja nie, wo Sigurd sie hineinreiten würde. Er holte auch seine Taschenlampe hervor, aber die Batterien waren leer, so ließ er sie liegen.
"Wir müßen einen See finden," zischte Sigurd mit energischer Stimme.
"Warum das?" fragte Jesper.
"Weil..." Sigurd sah ihn geheimnisvoll an. "Du fragst zuviel, Kleiner."
Jesper rollte seine Strickleiter aus. Sie war speziell für die Flucht vor den Eltern gemacht, hatte einen Knoten alle vierzig Zentimeter und war lang genug, sodaß sie die Erde erreichte, wenn er das eine Ende aus dem Fenster warf.
Der Schwarze Sigurd stand auf dem Fensterbrett und schaute ihm nach, während er hinunterkletterte. Dann flog auch er und setzte sich auf seine Schulter.
"Es ist ganz schön kalt," flüsterte Jesper, während seine Zähne klapperten.
"Ach, was" sagte Sigurd, "Helden frieren nicht."
Sie fanden sein Fahrrad im Carport und einen Augenblick später waren sie in der Dunkelheit verschwunden.
Es regnete immer noch, ein milder Nieselregen, der sich lautlos auf ganz Holte legte und die Menschen in den Häusern hielt. Jesper fuhr den Westparadiesweg hinunter, als Sigurd ausrief:
"Da, Fister! Da ist ein schöner, kleiner See mit dem wunderbarsten Nebel."
Jesper hielt das Fahrrad an und versteckte es am Weg im Gebüsch. Dann ging er über das Gras hinunter an das schwarze, kalte Wasser des Kollemoores.
"Weißt du was?" fragte Sigurd.
"Nee," antwortete Jesper, "ich ahne es nicht einmal, Sigurd."
"Wir müßen ein Boot finden!"
"Es ist nur ein kleiner See," sagte Jesper. "Man kommt nicht weit, auf so einem kleinen See."
"Soo?" flüsterte Sigurd, lehnte sich nach vorn und sandte ihm einen besserwissenden Blick. "Wo endet der See denn, das kannst du mir dann vielleicht mal erzählen?"
"Gleich da drüben!" sagte Jesper und zeigte in den dichten, feuchten Nebel, der wie eine Bettdecke über dem Wasser hing. Es war kein Geräusch zu hören, nur ihre eigenen Atemzüge und das sachte Rauschen des Regens.
"Gleich wo drüben?" fragte Sigurd.
"Gleich dort drüben, auf der anderen Seite des Nebels," antwortete Jesper Aksel Bergmann voller Überzeugung. Er war nämlich kein ganz dummer kleiner Junge.
Der Schwarze Sigurd legte den Kopf in den Nacken und brach in ein schallendes Gelächter aus. "Ha, ha," dröhnte es über das Wasser und Jesper dachte, daß er es ein wenig übertrieb, weil er überhaupt keine Luft mehr bekam, im Gras saß und keuchte und mehrere Minuten fast nicht mehr er selbst war.
Aber es ging ihm wieder besser, und wenig später fragte Jesper, so, als hätte er überhaupt nicht bemerkt, daß Sigurd vor Lachen beinahe gestorben wäre: " Sollen wir ein Boot suchen, Sigurd?"
"Oh, ja," stöhnte Sigurd. Dann gingen sie an den See und am Ufer entlang. Und wie es ja so kommen mußte, fanden sie ein Boot.
Während Jesper die Vertäuung nahm und das Boot ganz ans Ufer zog, zwischen das Schilf, sagte er:
"Wenn meine Eltern das herauskriegen, Sigurd, dann schicken sie mich ins Kinderheim."
Der Schwarze Sigurd hopste auf den Bug und warf einen Blick zurück an Land. "Was ist ein Kinderheim, Kleiner?"
"Ein Ort, wo sie Kinder hinschicken, wenn sie sie nicht mehr zuhause haben möchten," antwortete Jesper in einem düsteren Tonfall.
Sigurd schaute schockiert übers Wasser, und sprach nicht mehr davon.
"Na, 'möchten‘ ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort," murmelte Jesper.
Er stieß ab und sprang an Bord. Es war ziemlich dunkel und das Schilf schabte an den Seiten des Bootes mit einem ungemütlichen, schrillen Laut. Während es über das stille, schwarze Wasser glitt, dachte er daran, ob die Polizei nach ihm suchen würde, und ob es strafbar war, solch ein Boot zu stehlen. Vielleicht würden sie sogar versuchen, ihn über eine Fahndung in den Fernsehnachrichten zu finden, wo dann alle in der ganzen Welt hören würden, daß er, Jesper Aksel Bergmann, ein Bootsdieb war.
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