Peter Gollnik
Hinter den Fassaden
Gerichtsreportagen und mehr aus der Provinz
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Peter Gollnik Hinter den Fassaden Gerichtsreportagen und mehr aus der Provinz Dieses ebook wurde erstellt bei
Davor ein Wort Davor ein Wort Ich liebe die Provinz. Diese Bodenständigkeit, die man förmlich riechen kann, dieses Heimatverbundene, das überall aufblitzende Gemenschele – wo, bitte, finde ich auch nur annähernd Ähnelndes in den Häuserschluchten geballter Bebauung oder hinter den feinen Vorgärten am Rande von zersiedelten Oberzentren? Die Provinz hält sich, sie hat die Jahrhunderte überlebt, sie wird immer Provinz bleiben. Das mögen nach Höherem strebende Landräte bedauern; oder Bürgermeister, die sich nach S-Bahn-Anschluss und Autobahnauffahrt sehnen. Ich bedauere das nicht: Ich liebe die Provinz so wie sie ist. Begleiten Sie mich in diese meine Provinz, sie werden das Menschliche in dem hier Aufgetischten schmecken, sie werden es mögen. Es sind nicht unbedingt Geschichten, die man mit fein frittierten Nachtigallzungen vergleichen mag, eher mit dampfenden, kräftigen Kohlrouladen: Das ist das, was ich liebe! Dass auch in der Provinz nicht alles heile Welt ist, das ist nur natürlich. Den Hühnerdieb hat’s hier immer gegeben; den Bauern, der zu Nachbars Frau schlich, auch. Das ist heute nicht so sehr viel anders, die Moderne hat’s nur etwas aufpoliert. Der Blick ins Amtsgericht ist da ein lohnender, weil’s oft ein Ein blick ist. Der steht hier gleich zu Beginn, der bunte Reportagenstrauß folgt danach – „ich mach’ das mal pragmatisch“, hatte ich mir einst aufgeschrieben als Ausspruch eines Amtsrichters von altem Schlag. Ganz pragmatisch also nun ins Amtsgericht.
„Die können doch nicht einfach streiken“
Hinter den Fassaden: Sogar Justitia tut sich schwer
Handtaschenraub (I): Der Einser-Jurist auf der Anklagebank
Geständnis für letzte Chance
Der „Deal“ mit dem Angeklagten
Ein „begabtes Leben“ - Der 22-Jährige, der alte Leute über den Tisch zog
Methadon am Steuer
Ohne Drogentherapie geht die Diebin in den Knast
Der Alkohol, die Dusche, der Sex
Der Schmächtige und die Kinder-Pornos
Die „Freunde“ aus Polen ohne Papiere
MG's in Wohnung gehortet: „Sie waren mir lieb“
Die Randale nach dem Neonazi-Konzert
Justitia und die „Erpressung“
I: „Ich bleibe immer der Russe, das ist mir egal geworden“
...und mehr aus der Provinz: Über Tabakbauern, Ideensprudler und Petuh-Tanten
Chorkonzert hinter Gittern...und dann sangen alle gemeinsam
Und danach noch ein Wort . . .
Impressum neobooks
Ich liebe die Provinz.
Diese Bodenständigkeit, die man förmlich riechen kann, dieses Heimatverbundene, das überall aufblitzende Gemenschele – wo, bitte, finde ich auch nur annähernd Ähnelndes in den Häuserschluchten geballter Bebauung oder hinter den feinen Vorgärten am Rande von zersiedelten Oberzentren?
Die Provinz hält sich, sie hat die Jahrhunderte überlebt, sie wird immer Provinz bleiben. Das mögen nach Höherem strebende Landräte bedauern; oder Bürgermeister, die sich nach S-Bahn-Anschluss und Autobahnauffahrt sehnen. Ich bedauere das nicht: Ich liebe die Provinz so wie sie ist.
Begleiten Sie mich in diese meine Provinz, sie werden das Menschliche in dem hier Aufgetischten schmecken, sie werden es mögen. Es sind nicht unbedingt Geschichten, die man mit fein frittierten Nachtigallzungen vergleichen mag, eher mit dampfenden, kräftigen Kohlrouladen: Das ist das, was ich liebe!
Dass auch in der Provinz nicht alles heile Welt ist, das ist nur natürlich. Den Hühnerdieb hat’s hier immer gegeben; den Bauern, der zu Nachbars Frau schlich, auch. Das ist heute nicht so sehr viel anders, die Moderne hat’s nur etwas aufpoliert. Der Blick ins Amtsgericht ist da ein lohnender, weil’s oft ein Ein blick ist. Der steht hier gleich zu Beginn, der bunte Reportagenstrauß folgt danach – „ich mach’ das mal pragmatisch“, hatte ich mir einst aufgeschrieben als Ausspruch eines Amtsrichters von altem Schlag. Ganz pragmatisch also nun ins Amtsgericht.
„Die können doch nicht einfach streiken“
Das war, als bei Panasonic in Neumünster gestreikt wurde: So um die 150 Menschen vor dem Werktor, die Lahnstraße an beiden Enden von quer stehenden Polizeiautos gesperrt, ein BMW rauscht dennoch durch, hupend, Menschen springen in letzter Sekunde zur Seite.
Auf den Tag neun Monate danach saß der fixe Fahrer im Neumünsteraner Amtsgericht auf der Anklagebank: 62 Jahre alt, 44 Jahre Führerschein, jahrelang täglich mit dem Lkw auf der Straße gewesen, kein einziger Punkt in Flensburg, makellos leeres Strafregister - und dann dieser 17. Juni 2003.
Der Mann versucht zu erklären: „Psychisch und nervlich“ sei er unter Druck gewesen, seine todkranke Frau (sie ist vor diesem Gerichtstermin verstorben) habe er von einer Ausfahrt im Rollstuhl wieder nach Hause bringen wollen, „schnellstens“, weil sie über Schmerzen geklagt habe.
Und dann verteidigt er sein Verhalten von damals: Die Straße sei gar nicht richtig gesperrt gewesen, sagt er, „ich hab' mich gewundert - die Polizei ist präsent, aber keiner hindert mich, in dieses Chaos hinein zu fahren“. „Chaos“ sagt er, und: Die Leute könnten „doch nicht einfach streiken und da alles lahm legen“. Er selber habe immer gearbeitet, „manchmal auch nachts, Autos repariert, das musste doch laufen“. Heute ist er krank, „in 47 Jahren kaputt gearbeitet“.
Sein Anwalt sieht später „so mehrere unglückliche Sachen“ zusammen gekommen, ein „ungemeiner psychischer Druck, auf beiden Seiten“; „dann denken Sie nicht immer mehr richtig, dann verhalten Sie sich nicht immer richtig“.
Den Betroffenen muss es wie Horror vorgekommen sein: „Das Auto kam frontal auf mich zu“, sagt eine Zeugin; „mein Mann musste mich beiseite ziehen, sonst hätte es mich erwischt“. Eine weitere Zeugin: „Wenn ich mich nicht an den Bühnen-Lkw gequetscht hätte, dann weiß ich nicht....“
Neun Monate lassen dabei nicht vergessen, drücken aber doch auf die Erinnerung: Wie schnell das Tempo des BMW wirklich gewesen sein könnte - da reichte die Palette von 30 über 50 bis zu 70 km/h. Der Angeklagte selber war sich der „25 km/h, es könnten auch 30 gewesen sein“ sicher.
Letztlich war's nicht so wichtig - den „gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr“ gab der Staatsanwalt leicht hin: „Es fand ja kein Straßenverkehr statt.....“ Wegen Nötigung allerdings hielt er 30 Tagessätze zu 50 Euro für angemessen; der Richter schließlich fand ein Maß „an der untersten Grenze“ (30 mal 30 Euro, auch in Raten zu zahlen). So wenig ist das nicht: Von 50 Euro pro Tag müsse er leben, hatte der 62-Jährige erzählt.
Bei Panasonic sind die Arbeitsplätze inzwischen dahingegangen: Die Produktion wurde ausgelagert, nach Tschechien.
(März 2004)
Hinter den Fassaden: Sogar Justitia tut sich schwer
Verheiratete Frau im „besten Alter“ findet Freund und Liebhaber, offenbart sich ihrem Mann, ist hin- und hergerissen zwischen beiden, fühlt sich zum Liebhaber hingezogen, aber von ihm auch drangsaliert, geht deshalb zur Polizei, zeigt ihn an, wegen sexueller Nötigung, Freiheitsberaubung, Beleidigung.
Was ein Aktenzeichen ergibt und eine Verhandlung vor dem Schöffengericht - eine Geschichte, die das Leben schrieb und die mit anderen Facetten gar nicht so selten vorkommt.
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