Jesper betrachtete die dunklen, verschlossenen Fenster.
"Wie können wir sie retten, Sigurd?"
"Was fehlt ihr?" fragte Sigurd.
"Mein Vater hat ihr Gift gegeben," flüsterte Jesper zornig.
"Gift?" Sigurd bekam mitten im Regen große Augen. "Ich habe ja auch oft genug gesagt, daß du in Abenteuerland bleiben solltest. Nun verstehst du vielleicht den Sinn meiner Worte?"
Jesper nickte schweigend.
"Ich dachte ja immer, daß du merkwürdige Eltern hast," stellte Sigurd verwundert fest. "Aber, daß sie ihr Gift gegeben haben sollen?" Er schüttelte den Kopf, sodaß das Wasser nach allen Seiten spritzte.
"Du gehst wohl auch immer noch zur Schule?"
"Ja, das tue ich," antwortete Jesper.
Sigurd lehnte sich auf seiner Schulter vor und sah ihm tief in die Augen.
"Ich habe dich ja gewarnt - kannst du es nicht einsehen? Eltern - und Schule und diese..." Er überlegte einen Augenblick.
"Hausaufgaben," flüsterte Jesper.
"Jah, Hausaufgaben!" schrie der Schwarze Sigurd. "All diesen Mist haben wir überhaupt nicht in Abenteuerland. Wir haben Süßigkeiten und Kuchen und ein Schwein aus Marzipan mit einem Messer im Rücken, und wir haben einen Limonadenbach und wir haben..."
"Pst..." beschwichtigte Jesper. "Du weckst die ganze Nachbarschaft, Sigurd."
"Hm..."
Er stand ein wenig im Dunkeln, mit dem Raben auf der Schulter, und schaute mutlos durch den Regen auf das dunkle, stille Haus. Es drangen keine Geräusche heraus, kein Lebenszeichen von irgendetwas. Sigurd sah die Tränen, die von seinen Augen über die Backen herunterliefen. Er legte wieder den Kopf schräg und flüsterte aufmunternd: "Wir finden einen Rat, Fister. Wir denken nach und dann fällt uns was ein."
"Was sollte das sein?" flüsterte Jesper.
"Laß MICH denken!" zischte Sigurd, schob die Brust vor und reckte den Hals. Es verging ein kurzer Augenblick.
"Was nun?" fragte Jesper.
"Ich überlege..." krächzte Sigurd. Jesper ließ ihn in Frieden nachdenken. Gerade als er gehen wollte, geschah etwas." ICH HABS!" schrie der Schwarze Sigurd.
"Schhhh..." beruhigte Jesper. "Was hast du, Sigurd?"
"Eine Idee, Kleiner," krächzte Sigurd eifrig. Er faltete die Flügel vor den Schnabel und begann, ihm sprudelnd etwas ins Ohr zu flüstern.
"Sigurd, du spuckst mir ins Ohr."
"Ich HABS," flüsterte Sigurd schrill.
"Erzähl es mir," bat Jesper.
Der Schwarze Sigurd unterbrach auf einmal seinen Redefluß. Er schaute an sich selbst herunter und stöhnte laut.
"Was ist denn jetzt?" fragte Jesper.
"Ich habe Hunger," flüsterte der Rabe.
"Ja, ja," sagte Jesper.
"Vielleicht, nur vielleicht, sterbe ich vor Hunger, bevor ich dir von meiner brillanten Idee erzählen kann," zischte Sigurd und hielt sich mit den Flügeln den Magen.
"Wir gehen schnell zu mir nach Hause und schmieren ein paar Stullen," sagte Jesper. "Dann wird es schon wieder, du wirst sehen." Er ging hinunter zum Fahrrad, schwang sich hinauf und dann ging es mit voller Fahrt zurück, durch eine Gegend, die Paradiesviertel hieß.
Wenn an diesem späten Abend jemand auf dem Bürgersteig gegangen wäre, hätte er einen Jungen durch die Dunkelheit fahren sehen können, auf einem Fahrrad ohne Licht und mit einem Raben auf der Schulter. Aber es ging niemand dort.
"Schneller..." quengelte Sigurd. "Ich merke, daß meine Kräfte schwinden."
"Du wirst etwas zu essen bekommen," sagte Jesper beruhigend. Es ging ihm viel besser, jetzt, wo der Schwarze Sigurd ihn gefunden hatte. Er war jetzt sicher, daß ihnen irgendetwas einfallen würde, was Cherri von dem Mäusegift und den Tierärzten und all den anderen Gefahren, die auf sie lauerten befreien konnte, sie, deren Gesundheit aus dem einen oder anderen Grund aus der Balance geraten war.
"Jetzt verhältst du dich ganz ruhig," flüsterte Jesper, während er hinein und durch die Waschküche ging, mit dem Schwarzen Sigurd auf der Schulter.
"Selbstverständlich," antwortete Sigurd. "Panik ist etwas, das sich nur unter Unterentwickelten ausbreitet."
"Meine Eltern sind noch wach, Sigurd." Jesper dachte flüchtig daran, was sie wohl sagen würden, wenn er mit Sigurd auf der Schulter hineingerast kommen würde. Aber, ach was - sie hatten ja fast Cherri getötet, nun mußten sie auch die Folgen tragen.
Er öffnete die Tür zur Stube, gerade als seine Mutter vom Sofa aufstand.
"Na, da bist du ja." Sie wandte sich zu ihm um, hob die Hand vor den Mund und versuchte ihren eigenen Schrei zu unterdrücken.
Sein Vater sprang vom Stuhl vor dem Computer auf und drehte sich um.
"We ...Wer ist der da?" Seine Mutter zeigte auf den Vogel auf Jespers Schulter, mit einem zitternden Finger.
"Ich glaube, ich weiß wer das ist," seufzte sein Vater.
"Das ist doch der Schwarze Sigurd, Mutter. Kannst du ihn nicht erkennen?"
Sie sah aus, als ob sie sich mit sich selbst nicht einig werden konnte, ob sie in Ohnmacht fallen oder einen Wutanfall kriegen sollte.
"Wir müssen nämlich etwas herausfinden," sagte Jesper Aksel Bergmann Und sah feierlich in die Stube.
"Erst das Essen, Fister," zischte der Schwarze Sigurd.
"Ach ja, essen..." Er fing an mit energischen Schritten zur Küchentür hinüber zu gehen.
"Also, ich bestimme hier," begann sein Vater. "Und ich sage, daß es über die Bettzeit hinaus ist und du umgehend ..."
Der Schwarze Sigurd hob einen Flügel in die Luft, spreizte die Federn wie einen Fächer und rief: "Ruhe!"
Der Vater schwieg und glotzte dumpf auf den Vogel. "Wir haben das Kommando übernommen, für eine Zeit lang," rief der Schwarze Sigurd mit schriller Stimme.
Sein Vater machte einen Schritt nach vorn."Das Kommando übernommen?"
"Oh ... Ja, also wir bestimmen nun," antwortete Sigurd - voller Überzeugung.
"Nun werde ich sagen..." begann Jespers Vater mit einer Stimme, die vor Zorn bebte.
Der Schwarze Sigurd drehte sich blitzschnell auf Jespers Schulter, zeigte mit der Spitze seines Flügels auf seine Mutter und sagte mit tiefer, weicher Stimme:
"Gnädige Frau, sie sehen ausgesprochen hübsch aus heute Abend. Schöner als je zuvor."
Jespers Mutter glotzte Sigurd mit offenem Mund an. Dann fasste sie sich, schaute an sich herunter und glättete mit einer Hand ihren Rock. Während sie das tat errötete sie mehr als sie es nach und nach in vielen Jahren getan hatte.
"Oh, tausend Dank." Sie lächelte und schaute Sigurd freundlich an.
"Ja, gnädige Frau - nichts zu danken." Sigurd lehnte sich auf Jespers Schulter vor und sah sie mit dem einen seiner blinzelnden Augen schmeichelnd an. "Wir Raben haben ein Auge für Schönheit, liebe Frau."
Jesper stand mit geschlossenen Augen da und wartete darauf, daß sie explodierte. Zu seinem großen Erstaunen explodierte sie nicht. Sein Vater hingegen war so rot im Gesicht, wie ein Klumpen glühenden Eisens.
Jesper beeilte sich weiter in die Küche, wo er die Tür hinter sich schloß.
Sigurd hüpfte hinunter auf das Küchenbord und stand und lauschte mit schrägem Kopf.
"Das ist ein V-O-G-E-L, VOGEL," sagte sein Vater laut.
"Es kann gut sein, daß es ein Vogel ist, Hermann," verlautete die Stimme seiner Mutter. "Aber das ist das netteste, was jemand gesagt hat, seit Tante Fransens dreißigstem Geburtstag."
"Das ist lange her," wandte Jespers Vater ein.
"Ja!" rief seine Mutter. "Fast fünfzehn Jahre."
Es wurde ganz still in der Stube.
"Warum hast du das gemacht?" fragte Jesper, während er die Butter aus dem Kühlschrank holte.
"Format, Fister. Es ist eine Frage des Formats."
Der Schwarze Sigurd stolzierte mit seinen dünnen, knochigen Beinen auf dem Küchenregal.
Jesper stand mit dem größten Teil seines Oberkörpers im Kühlschrank.
"Sigurd, pass auf, daß du nicht..." Mehr konnte er nicht sagen, als auch schon ein erschrecktes Schnattern, ein Platschen und danach ein Spucken und Zischen von jemandem zu hören war, der im Waschbecken herumschwamm. "...ins Waschbecken fällst," sagte Jesper.
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