"Ruhig - ruhig, junger Mann," dachte Jesper Aksel Bergmann.
"Ruhig - ruhig, junger Mann!" rief sein Vater hinten vom Schreibtisch, wo er saß und arbeitete.
Seine Mutter saß auf dem Sofa und sah ihn mit einem bekümmerten Ausdruck im Gesicht an.
"Hey," sagte Jesper. "Wo ist Cherri?" Er sah sich um. Es war allzu still.
"Da ist etwas, über das wir sprechen müßen," sagte Jespers Mutter und winkte ihn zu sich.
Sein Vater vertiefte sich in seine Arbeit am Computer, wie er es immer machte, wenn es Probleme gab.
"Wo ist Cherri?" fragte Jesper noch einmal.
"Cherri ist krank," sagte seine Mutter mit belegter Stimme.
Sein Vater seufzte über der Tastatur und starrte leer auf den Bildschirm.
"Krank?" wiederholte Jesper. "Er war doch gestern noch gesund?"
Jespers Mutter schaute zu seinem Vater hinüber mit gehobenen Augenbrauen und gespitztem Mund.
"Oh!" dachte Jesper Aksel Bergmann. "Nun wird es brenzlig."
Sein Vater wandte sich langsam um und schaute ihn über die Brillengläser an. Dann faltete er die Hände im Schoß und räusperte sich wie immer, wenn er wegen etwas ein schlechtes Gewissen hatte.
"Ja, sieh mal," begann er. "Ich habe dieses blaue Gift gegen die Mäuse ausgelegt, wie du weißt."
Jesper Aksel Bergmann verkrampfte sich der Magen.
Seine Mutter saß auf dem Sofa und schüttelte energisch mit dem Kopf.
"Und dann, ja dann..." Der Vater seufzte tief, nahm die Brille ab und begann nervös, sie zu putzen, obwohl sie spiegelblank war.
"Was dann?" flüsterte Jesper Aksel Bergmann.
"Manchmal muß man tapfer sein," sagte sein Vater und hob einen Finger in die Luft.
"Was dann?" fragte er wieder.
"Ja, dann hat dein verschlagener Hund etwas von dem Gift gefressen," sagte sein Vater irritiert. "Cherri ist nicht verschlagen!" rief Jesper, sodaß man es mehrere kilometerweit weg noch hören konnte.
"So, so," sagte sein Vater. "Das ist etwas, was ich entscheide."
Aber Jespers Mutter war sich darin mit ihm nicht einig.
"Du solltest dem Jungen lieber erklären, was passiert ist," sagte sie scharf.
Der Vater sah fast aus wie eine Katze, die von wilden blutrünstigen Hunden in eine Ecke gedrängt worden war.
"Es tut mir sehr leid," sagte sein Vater so leise, daß es schwer zu hören war. "Sehr leid." Er nickte, während er sprach, um zu unterstreichen, welche enorme Überwindung es ihn kostete, dies zuzugeben.
"Wo ist Cherri?" fragte Jesper.
"Oh, in der Tierklinik," sagte sein Vater.
"Habt ihr sie bloß in die Tierklinik gebracht?" fragte Jesper.
"Bloß..." sagte sein Vater. "Sag mir, bist du dir klar darüber, was es kostet einen Hund in die Tierklinik zu..."
"So, so," sagte seine Mutter.
"Ich werde sie jetzt besuchen," sagte Jesper. "Gleich mit euch zusammen."
"Das läßt sich nicht machen," sagte sein Vater.
"Sie ist bewußtlos, Cherri," sagte Jespers Mutter. "Und dort ist jetzt auch geschlossen."
"Geschlossen?" rief Jesper. "Liegt sie ganz alleine in einer dunklen, geschlossenen Tierklinik?"
"Jah, oh..." murmelte sein Vater.
"Warum legt man auch Gift aus?" rief Jesper.
"Das macht man, um die Mäuse loszuwerden," sagte sein Vater pädagogisch.
"Warum muß man sie loswerden?" rief Jesper Aksel Bergmann.
Sein Vater schaute hinunter auf seine Hände und sah aus, als hoffe er, sie könnten ihm eine Antwort geben. Aber offenbar glückte das nicht.
"Warum tötet man kleine Mäuse?" schrie Jesper so laut er konnte.
"Weil man sie nicht überall herumlaufen und alles anfressen lassen kann," antwortete sein Vater aufgebend. Er warf Jespers Mutter einen flehenden Blick zu, eine Bitte um Hilfe, aber sie ließ ihn schwitzen.
"Ich geh wieder," sagte Jesper, drehte sich auf dem Absatz um und ging hinaus durch die Waschküche, wo er seine Jacke vom Fußboden aufhob. Danach stieg er in seine Stiefel und eilte hinaus in den Regen und die Dunkelheit, während seine Eltern diskutierten, wer von ihnen ihn aufhalten sollte und wer von ihnen die Schuld an dem ganzen Unglück hatte, das geschehen war. Er holte sein Fahrrad aus dem Carport und radelte die Pindehuggervang hinunter und weiter zur Paradieswiese und weiter - bis er vor der Tierklinik hielt, unterhalb eines Hügels, geradeaus zum Wald.
Es war ein längliches, graues Gebäude. Die Fenster waren dunkel wie die starrenden Augen im Kopf eines gewaltigen, liegenden Drachens. Er hielt die Luft an und lauschte, aber es waren keine anderen Geräusche als die des Windes und des Regens, der auf seine Jacke trommelte, zu hören.
Dann holte es ihn ein, das Gefühl der Sorge und des Elends.
Er warf das Fahrrad von sich und ging über den kurzgeschnittenen Rasen draußen vor der grauen Mauer, die ihn von dem in der Welt trennte, das er am meisten liebte.
Und dann, wie eine Reaktion auf alles, was so plötzlich gekommen war, daß er sich noch gar nicht daran gewöhnt hatte, hielt er die Hände vors Gesicht und weinte. Er sah Cherri vor sich, auf einer Pritsche aus rostfreiem Stahl liegend, mit den Haaren über den Augen hängend, wie ein anderer Hippiehund - Augen ohne Leben und Wärme, Augen von einem, der im Sterben lag. Und der Gedanke ging Jesper auf, daß das, was Cherri fehlte, etwas anderes und mehr war, als die Medizin, die er von Menschen bekam, die nun eine Menge Geld daran verdienten, dadurch, daß er krank war.
Er schluchzte laut, ganz egal, ob jemand es hörte und auch vielleicht dachte, daß er zu groß sei, um so dazustehen und zu weinen, mitten auf dem Rasen vor einer Tierklinik, zu einem Zeitpunkt, wo er in seinem Bett liegen und schlafen sollte. Aber dann, plötzlich, passierte etwas.
"Was ist mit dir?" krächzte eine rauhe Stimme.
Jesper hielt den Atem an und lauschte.
"Ts, ts," seufzte eine Stimme zu ihm hinunter. "Sicher ein Unglück."
Er nahm die Hände von den Augen und sah sich verwirrt um.
"Dann trockne dir die Augen, Fister. ICH bin zurückgekommen!"
Jesper stutzte. Er kannte die Stimme. Er sperrte langsam die Augen auf und drehte sich herum, ohne jemanden zu entdecken. "Hier oben in dem Baum," flüsterte die Stimme.
Jesper legte den Kopf zurück und starrte in die Äste der Birke. Und da, mitten in dem nassen Wiederschein der Straßenlampe neben dem Bürgersteig, saß der Rabe Schwarzer Sigurd aus Abenteuerland, glänzend und funkelnd in seiner blauschwarzen Federtracht. Er legte den Kopf leicht schräg und schaute auf den Jungen hinunter.
"Erinnerst du dich?" zischte er.
Jesper nickte und lächelte und vergaß Cherri für einen Augenblick. Der Schwarze Sigurd breitete seine Flügel aus, schwebte herunter und setzte sich auf seine Schulter.
Jesper hob die Hand und streichelte ihm über den Rücken. Verschwunden waren die Kälte des Regens, die Kälte der Nässe.
"Ach, Sigurd, wie habe ich dich vermißt," seufzte Jesper.
"Ich bin ja auch jemand, den man vermißt," sagte der Schwarze Sigurd verständnisvoll.
Jesper starrte in die schwarzen, strahlenden Augen.
"Warum hast du gerade geweint?" fragte der Rabe.
Jesper dachte wieder an Cherri, es war wie ein Schmerz, der ihn durchfuhr. Die Freude über die Wiederkehr des Schwarzen Sigurds verschwand fast ganz.
"Ich verliere gerade Cherri," flüsterte Jesper mit Verzweiflung in der Stimme.
"Wer ist Cherri?" fragte der Schwarze Sigurd mit einem leichten Anflug von Eifersucht in seiner rauhen Stimme.
"Cherri ist mein Hippiehund," flüsterte Jesper.
"Wo ist er hin? Ich kann ihn nirgendwo sehen."
Jesper zeigte auf das Haus. "Dadrin, sie liegt dadrinnen ganz alleine und ist am Sterben, Sigurd. Und ich kann nicht zu ihr hineinkommen."
"Sie?" sagte Sigurd. "Sie ist eine Hündin! Ein hübsches, weibliches Wesen in Not," murmelte Sigurd heiser. "Sie muß gerettet werden, Kleiner!"
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