Abwechselnd herrschen [die vier Elemente] im Umschwung des Kreises und vergehen und entstehen in und aus einander in festbestimmtem Wechsel. Denn nur diese [vier Elemente] gibt es: durcheinander laufend werden sie zu Menschen und anderer Tiere Geschlechtern; bald vereinigen sich alle zu einer Ordnung in Liebe, bald auch trennen sich wieder die einzelnen [Elemente] im Hasse des Streites, bis sie, kaum zum All-Einen zusammengewachsen, [wieder] unterliegen. 69
Der periodische Wechsel von Dominanz und Schwäche, dieses wogende Durcheinander, führt bei Empedokles nie zu Ausgleich und Stillstand. Damit näherte er sich nicht nur den aristotelischen Vorstellungen von der Konstitution der organischen Stoffe, sondern wies voraus in Vorstellungen von Materie-Konsitutionen, die von Attraktion und Repulsion bestimmt werden und in der Tradition des Dynamismus (Leibniz, Bošković, Kant, Schelling) ihren Ausdruck fanden, bis zum Atombegriff der modernen Teilchenphysik. 70
Exkurs: Paul Klee und das Wasser
Ähnlichen Fragen wie Empedokles widmete sich fast zweieinhalb Jahrtausende später Paul Klee (1879–1940), und auch er bewegte sich in allen Elementen und Zonen des Wirklichen – des Menschlichen, Tierischen, Pflanzlichen, Dinglichen –, als bildender Künstler näherte er sich ihnen zeichnend und malend. Auch er dachte über die wahrnehmbare Wirklichkeit hinaus, es ging ihm nicht um Abbildung, sondern um die nicht über die Sinne erfassbaren Eigenschaften des Natürlichen, und er forderte vom Maler: „Die sichtbare Welt ist in ihrer Sichtbarkeit für ihn erschöpft. Er muss fortschreiten zum Bild“ 71 , zum Unsichtbaren, und das waren für ihn die Formkräfte der Natur, die Kräfte, die das Lebendige lebendig machen. Nicht um „Form als Erscheinung“, sondern „Form im Werden“, als Genesis, ging es ihm, um die Natur als sichtbare Form unsichtbarer Kräfte und Mächte. Eine besondere Nähe entwickelte er zum Wasser als Zwischenreich und Zone, wo sich das Irdisch-Gewohnte mit dem Unwirklichen und Unglaublichen vermischt, und zu Fischen in ihrer elementaren Form und verschwenderischen Formenvielfalt. Diese erweiterte er noch mit Fantasie und Humor und war auf diese Weise auch Schöpfer. „Satire darf kein überflüssiger Unmut sein, sondern Unmut in Hinblick auf das Höhere. Lächerlicher Mensch, göttlicher Gott.“ 72
Wie so viele Künstler hatte auch er auf seinen Reisen wesentliche Impulse für seine Arbeit erhalten, insbesondere auf seiner Tunis-Reise 1914. „Die Farbe hat mich. Ich bin Maler“, kommentierte er damals einen wesentlichen Entwicklungsschritt. 73
Abbildung 17: Paul Klee, Fische (1921) 74
Das freie Element, das Meer, musste früher oder später ein Wesen seiner Art hervorbringen, ein äußerst freies, gleitendes, wogendes, fließendes Wesen, so fließend wie die Flut selbst. Doch musste seine bewundernswerte Beweglichkeit sich einem noch größeren inneren Wunder verdanken, einem zentralen, feinen und starken, sehr elastischen Organismus, wie bis dahin kein Tier noch einen vergleichbaren besaß. 75
Mit Platon (427–347 v.Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) und dem Übergang vom Mythos zum Logos begann die Verwissenschaftlichung der Vier-Elemente-Lehre – sie büßte an Farbigkeit und Skurrilität ein –, ihre Wanderschaft (nach Ägypten und zurück nach Europa) und ihre Weiterentwicklung, sodass Alexander von Humboldt Jahrhunderte später behaupten konnte:
Empedocles behauptete die Gleichartigkeit aller Materie, und bezeichnete die zuerst von ihm aufgestellten 4 Elemente als einen Zustand der Materie. Diese 4 Elemente haben durch viele Jahrhunderte sich erhalten, und erst in neuerer Zeit 76 ist es mit Mühe gelungen, sich davon los zu machen. 77
Alexander von Humboldt maß der Jonischen Naturphilosophie außerordentliche Bedeutung bei: In der Geschichte des menschlichen Vermögens, den großen Gedanken der „Natur-Einheit“ erkennen zu können, sah er mit jener Zeit eine neue Stufe erreicht. Er zählte sie zu den insgesamt sechs „Hauptmomenten“, die in der Geschichte des Naturwissens substanziell Neues gebracht hätten, und gliederte diese damit gleichzeitig in Epochen:
1. die Jonische Naturphilosophie, und die Dorisch-Pythagoräische Schule.
2. die Züge Alexanders nach dem Osten.
3. die Züge der Araber nach Osten und Westen.
4. die Entdeckung von Amerika .
5. die Erfindung neuer Organe zur Naturbeobachtung, d.h. Fernrohr, Wärmemesser, Barometer von 1591 bis 1643.
6. Coock’s [sic!] Weltreisen, die ersten nicht bloß geographischen Entdeckungsreisen, die den Grund legten, zu späteren physikalischen Expeditionen. 78
Mögen alle diese als „Hauptmomente der Wissenschaftsgeschichte“ identifizierten Schwellen auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen: Humboldt ging es um Erfahrungen außerhalb des gewohnten Rahmens, um Möglichkeiten der Horizonterweiterung im Großen wie im Kleinen.
Auf der einen Seite hielt Humboldt, selbst obsessiv Reisender, Forschungsreisen – und, obwohl streng antikolonialistisch eingestellt, in diesem Zusammenhang auch imperiale Eroberungszüge – für unverzichtbar, sie würden den Sesshaften mit ihren engen Erfahrungsräumen die Welt öffnen und neue Sichtweisen zugänglich machen. Das rechnete er übrigens auch den griechischen Naturphilosophen an: Sie hatten nicht nur ihre Beobachtungstechniken und Messtechniken erweitert, sondern viele von ihnen auch ihren kognitiven Horizont – im Zuge ihrer Reisen –, und die Elemente aus ihrer Verankerung im Mythos gelöst.
Auf der anderen Seite boten ihm, dem Messfanatiker, die neuen Geräte und Techniken bessere Möglichkeiten der Erschließung bzw. Erweiterung oder Vertiefung des Beobachtungsrahmens und eine gesteigerte Präzisierung der Messergebnisse, sodass Humboldt riesige Datenmengen sammeln konnte. Für ihn gilt, was der Dichter und Ethnograph Hubert Fichte über den großen griechischen Reisenden und Historiker Herodot gesagt hatte: Er beherrsche die „Reiseform des Wissens“: reisen, erfahren, beobachten, aufschreiben.
Auf mehrfache Weise stand Humboldt selbst an einer Schwelle. Ganz der Idee des Natur-Ganzen und dem Kosmos-Gedanken verhaftet und in der Tradition des gesamtheitlichen Goethe’schen Weltbildes, verfasste er seinen fünfbändigen Kosmos noch im Zeichen der wechselseitigen Verankerung des Kulturprozesses mit der Naturgeschichte. Das universale Werk erschien ab 1845 – inzwischen war die Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften erfolgt und diese waren nicht mehr auf das Ganze der Natur ausgerichtet. Humboldts selbstverständlich-optimistische Erwartung, dass sich die Intensivierung der Naturwissenschaften natürlich in einem größeren Naturbezug im Menschen niederschlagen müsste, hat sich keineswegs erfüllt und ist heute auch gar nicht mehr nachvollziehbar. 79
Exkurs: Der Donnerbrunnen
Aus derselben Zeit stammt ein „Wasser-Objekt“, das eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat. Nach diesen „Ausflügen zu den Anfängen der Welt“ über das Wort und das Bild, vor allem zum Element Wasser, nach den Begegnungen mit mythischen Figuren (auch allegorischen) und dem Prinzip der Vierheit sei in Verbindung dieser Aspekte der Ausflug ins Untere Belvedere in Wien empfohlen, dort ist im Barockraum der Donnerbrunnen im Original zu besichtigen und die Allegorien der vier Donauzuflüsse Traun, Enns, Ybbs und March.
Abbildung 18: Die allegorischen Figuren am Donnerbrunnen in Wien (Fotos: privat)
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