Die Naturphilosophie der Antike
Die Entstehung der Welt und ihr gegenwärtiger Zustand, das war auch das weite Themenfeld der etwa anderthalb Jahrhunderte nach Hesiod einsetzenden „Naturforschung“ 57 , die sich der Suche nach den Wurzeln alles Seienden, dem Werden und Vergehen der Welt, dem Urstoff aller Dinge, dem sogenannten Arché, widmete und später als „Vorsokratiker“ bezeichnet wurden. Ihre Schriften sind nur bruchstückhaft erhalten, allerdings haben spätere griechische Autoren, allen voran Aristoteles, über sie berichtet und die unverkennbaren Anfänge ersten echten wissenschaftlichen Denkens, das auf Beobachtung fußt und kausale Zusammenhänge sucht, dokumentiert.
Zu den Vertretern dieser ältesten griechischen Philosophen gehörte unter anderem Thales (624/23–548/44 v.Chr.), der aus der ionischen Hafenstadt Milet stammte, Angehöriger einer wohlhabenden, weltoffenen Kaufmannsschicht und aus diesem Grund wohl weit gereist war und – davon ist auszugehen – die vorderorientalischen Mythen kannte. Das Denken der Naturphilosophen weist überhaupt viele Gemeinsamkeiten auf, z.B. das göttliche Prinzip der Elemente als etwas zugleich Materielles und Geistiges. Eine entscheidende Neuerung besteht darin, dass sie sich in ihrem Wahrheitsanspruch nicht mehr auf göttliches Wissen beriefen. Die Götternamen verschwanden, vom Stromgott Okeanos und seiner Gattin, der Meeresgöttin Tethys, blieb bei Thales z.B. nichts als das Wasser, dem er als „Prinzip aller Dinge“ höchste Bedeutung zumaß. 58
Aristoteles (384–322 v.Chr.) beleuchtete diesen Umstand in seiner Metaphysik:
Von denen, die zuerst philosophiert haben, haben die meisten geglaubt, dass es nur stoffliche Urgründe der Dinge gebe. Denn woraus alle Dinge bestehen, und woraus sie als Erstem (d.h. ursprünglich) entstehen und worein sie als Letztes (d.h. schließlich) vergehen, indem die Substanz zwar bestehen bleibt, aber in ihren Zuständen wechselt, das erklären sie für das Element und den Urgrund (Arché) der Dinge, und daher glauben sie, dass weder etwas (nur aus dem Nichts) entstehe noch (in das Nichts) vergehe, in der Meinung, dass eine solche Substanz (Physis) immer erhalten bleibt […] Denn es muss eine gewisse Substanz vorhanden sein, entweder eine einzige oder mehrere, aus denen alles übrige entsteht, während sie selbst erhalten bleibt. Über die Anzahl und die Art eines solchen Urgrundes haben freilich nicht alle dieselbe Meinung, sondern Thales, der Begründer von solcher Art Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser (daher glaubt er auch, dass die Erde auf dem Wasser ruhe) […] 59
Damit wies Aristoteles der Naturphilosophie von Thales ein entscheidendes neues, „materiales Prinzip“ zu, wonach alle Elemente und Naturkräfte nur spezifische Ausformungen des ewigen Urstoffes seien. Dieses Prinzip der unendlichen Verwandlung ist dem Mythos fremd, hier wird der Urstoff zwar als Ausgangselement der Weltentstehung, aber nicht beständiges Element des Kosmos verstanden, genauso wie jede neue Göttergeneration neu und machtvoll die alte ablöst.
Dagegen sei das Wasser bei Thales als Element eingestuft
• „aus dem alles Seiende (letztlich) besteht,
• in das alles Seiende schließlich vergeht,
• das selbst weder entsteht noch vergeht.“ 60
Daraus ergeben sich die Schlussfolgerungen:
• „Die Welt ist in ihrer gegenwärtigen Struktur einfacher, als sie zu sein scheint (‚Simplizität‘).
• Hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen existiert eine mit den Erscheinungen nicht identische Realität (‚theoretische Tiefe‘).
• Entstehen und Vergehen ist Veränderung einer quantitativ und qualitativ beharrenden Substanz (‚elementarer Erhaltungssatz‘).“ 61
Empedokles von Agrigent (483/82–424/23 v.Chr.), der sich unter die späten Vorsokratiker einreiht, wählte einen neuen, nämlich ausgesprochen eklektizistischen Zugang zur Naturphilosophie. In Anerkennung der vielen Bemühungen seiner Vorgänger baute er auf deren wesentlichen Erkenntnissen und Einsichtenn seine Vier-Elemente-Lehre auf und übernahm zu diesem Zweck von Tales von Milet die Theorie zum Wasser, von Anaximenes jene zur Luft und von Heraklit jene zum Feuer; die Erde fügte er als Element dazu bzw. kopierte er Xenophanes, der schon zu Wasser und Erde gearbeitet hatte. Empedokles vereinfachte den bisher verbreiteten radikalen philosophischen Zugang und gab vor allem die theoretische Frage auf nach dem Einen, das alles im Grunde ist. 62 Er war Materialist, nahm den Bestand der Materie zur Kenntnis und widmete sich der sinnlich wahrnehmbaren Welt, um sie in ihrer Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit zu verstehen. 63 Unvergängliche Grundlage von allem waren für ihn die vier Elemente, die er als „Wurzelkräfte“ bezeichnete und zuerst noch mit Götternamen (Feuer – Zeus, Luft – Hera, Erde – Aidoneus/Hades, Wasser – Nestis/Persephone) vorstellte, wenn er sein Lehrgedicht „Über die Natur“ (Peri phýseōs), einen seiner wenigen erhaltenen Texte, beginnt:
Denn die vier Wurzeln aller Dinge höre zuerst: Zeus der schimmernde und Hera die Leben-Spendende sowie Aidoneus und Nestis, die durch ihre Tränen irdisches Quellwasser fließen lässt. (31B6)
Die vier Elemente und ihre mythischen Bedeutungsdimensionen wurden oft in allegorischen Darstellungen transportiert, auch so wurde ihr Bildungsgut lebendig gehalten:
Abbildung 15: Antonius Wierix (um 1552–1624, Antwerpen), Elemente: Das Wasser, Kupferstich. Die Subscriptio lautet: „Pflanzen und Felder begrünen sich durch meine Feuchtigkeit und durch meine Gabe schenke ich den Fischen das Leben.“ 64
Der Triumphwagen wird von den Meeresrossen Poseidons gezogen, der Wagenlenker treibt sie mit Windhauch an und symbolisiert damit die dynamische Kraft. Die Wasser-Tierkreiszeichen sind vorhanden: Steinbock, Wassermann und Fische. Poseidon tritt als doppelköpfiger König mit einem Schlüssel auf: Er ist Meeresbeherrscher und Erderschütterer. Hinter ihm steht seine Gattin Amphitrite und hält seinen Dreizack (oder es ist eine Flussgöttin, worauf der Krug als Flusssymbol in ihrer Linken hindeuten würde). Peitschende Wellen und drohende Wolken belegen eindrucksvoll seine Macht.
Antonius Wierix hat in dieser Serie entsprechende Kupferstiche auch für die anderen Elemente – Feuer, Erde, Luft – angefertigt. 65
Auf ganz andere Weise ist zur selben Zeit und auch in Antwerpen der Maler Joachim de Beuckelaer mit den Motiven der vier Elemente umgegangen; in allen vieren zeigt er farbenfreudige Alltagsszenen, das Bild zum Element Wasser beispielsweise einen Fischmarkt:
Abbildung 16: Joachim De Beuckelaer (um 1530–1573/74), Die vier Elemente: Wasser. Fischmarkt mit dem wunderbaren Fischzug im Hintergrund 66 ; alle genannten Gemälde: National Gallery London 67
Die Gemälde zu den vier Elementen ( Feuer : eine Küchenszene mit Jesus bei Maria und Martha im Hintergrund; Wasser : siehe oben; Erde : Der Gemüsemarkt mit Flucht nach Ägypten im Hintergrund; Luft : Geflügelmarkt mit Gleichnis vom verlorenen Sohn im Hintergrund) sind in den Jahren 1569 und 1570 entstanden.
Für Empedokles repräsentieren die vier Elemente göttliche Naturmächte mit unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen Charakteren, aber gleich an Stärke und von gleich alter Abstammung, und abwechselnd gewinnen Einzelne an Stärke oder treten wieder zurück. Diese Tendenzen des Mit- und Gegeneinanders, des Sich-Anziehens und -Abstoßens repräsentieren das lebendige Prinzip dieser Vierheit, die eine Einheit ist. Die Spannungen, die dabei entstehen, werden als Liebe und Hass bezeichnet – symptomatisch für Empedokles’ poetische, aber oft missverständliche Ausdrucksweise 68 :
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