„Ich bin Ihnen ja gar nicht böse,“ antwortete die weiche Mädchenstimme, deren tiefer Klang etwas Liebkosendes hatte.
„Ich fürchtete schon, Sie beleidigt zu haben,“ sprach er und kam sich banal und albern vor, aber seine Augen ruhten zärtlich auf ihrem lieblichen Gesicht.
Sie schüttelte den Kopf, dass die Löckchen um Stirn und Schläfen hüpften.
„Es war ja nicht recht, was Sie taten, aber ich war auch gleich sehr bös und hässlich zu Ihnen und —“ sie druckste herum, „na ja, und das tut mir leid.“
Herrgott, war das Mädelchen süss!
Mit welcher Offenherzigkeit es da eben gesagt hatte: „Ich war aber gleich sehr bös und hässlich zu Ihnen,“ dazu der Blick von kurz zuvor.
Franz-Ferdinand atmete tief auf, und wie Trauer ging es ihm durch den Sinn, dass es doch wohl besser war, die Kleine zu meiden, nun sie ihn so unverfälscht merken liess, dass er ihr gar nicht gleichgültig war, trotzdem sie ihn kaum kannte.
Sein Kuss hatte das junge Herzchen sicher schneller schlagen gemacht. Dennoch mochte er sich jetzt noch nicht von ihr trennen. Bis über die Brücke konnte man doch zusammenbleiben. Die wenigen Minuten durfte er sich gönnen. Wie einen köstlichen Leckerbissen wollte er die kurze Zeit dieses Beisammenseins mit dem entzückenden Mädel geniessen.
Fortan musste er ihr dann aus dem Wege gehen.
Ihm fiel ein, wie die Frauenstimme, die das weinende Geschöpf in dem kleinen Hause hatte trösten wollen, immer „Mausi“ gesagt hatte.
Die Benennung passte so gut zu der Zierlichen, Feinen.
„Ihren Namen haben Sie mir vorhin nicht nennen mögen,“ lächelte er, „eins aber darf ich vielleicht doch erfahren. Ich bin ja wohl aufdringlich und neugierig, dennoch, bitte, wie ruft man Sie daheim? Darf ich es wissen?“
Errötend gab die Kleine Antwort.
„Getauft bin ich Maria, aber so weit ich zurückdenken kann, nennt man mich —“. Sie stockte. Es erschien ihr zu komisch, dem schlanken, vornehm aussehenden Korpsstudenten zu erzählen: „Man nennt mich ‚Mausi‘“. Nein, das ging nicht gut, sie mochte sich um keinen Preis lächerlich machen.
Franz Ferdinand ahnte, mit welchen Gedanken sich die neben ihm Gehende herumschlug. Sanft sagte er: „Mausi!“
Sie blickte ihn gross und erschreckt an, stotterte: „Woher wissen Sie?“
Er lächelte. „Irgend ein Lüftchen hat es mir ins Ohr geflüstert.“
„Aber nein — sagen Sie doch die Wahrheit,“ sie machte eine reizende Schmollmiene.
Entzückend, hinreissend fand er das Mädelchen so.
„Also ich will wahr sein, gnädigstes Fräulein Mausi,“ lachte er. „Sie sehen einfach so aus, als ob man Sie ‚Mausi‘ rufen müsste.“
Nun lachte sie vergnügt, und beide waren froh wie Kinder, die sich über Harmlosigkeiten freuen.
Gleich war das jenseitige Ufer des Neckars, die Neuenheimer Seite, erreicht, und Franz-Ferdinand dachte, nun müsste er sich verabschieden, denn immer deutlicher empfand er es, das Mädchen war zu schade für eine Liebelei, viel zu schade — und auf mehr durfte er sich nicht einlassen. Daheim auf Schloss Wildhausen wartete Ulla auf ihn, sicher erschien ihr und ihm der Tag, da sie vereint vor dem Altar der kleinen Hauskapelle knien würden, um von Pfarrer Haslanger den Ehesegen zu empfangen. Der alte Pfarrer Haslanger, der ihn schon getauft hatte.
Er blieb zögernd stehen. „Darf ich fragen, in welcher Richtung Sie weitergehen wollen, Fräulein Mausi?“
„Ich will heim,“ sie wies nach links. „Ganz oben, noch ein Stück über die neue Brücke hinweg, wohnen meine Eltern.“
Er folgte einer plötzlichen Eingebung, die alle kühlen, verständigen Vorsätze umwarf.
„Hören Sie, Fräulein Mausi, wollen wir noch ein bisschen zusammenbleiben? Mir ist’s, als hätte ich Ihnen noch etwas zu sagen. Aber hier am Ufer entlanggehen, ist lange nicht so schön wie droben den Philosophenweg. Ich gehe ihn so gern.“
Maria Reinhard fiel ihm ins Wort: „Ich auch, und weil ich noch Zeit habe — —“
Nun fiel er ihr ins Wort: „Gehen wir zusammen.“
Und so geschah es. Maria Reinhard dachte nicht einen Augenblick daran, dass es sich nicht gehörte, mit einem Studenten, dessen Namen sie nicht einmal kannte, den Waldweg entlang zu bummeln, sie wusste nur, es musste lieb und schön sein, neben dem schlanken, vornehmen Mann noch ein Stück Weges weiterzuwandern. Und er hatte das Gefühl, ein köstliches Geschenk erhalten zu haben, weil das hübsche, braunhaarige Mädchen noch ein Stündchen mit ihm zusammenbleiben wollte.
Hier am jenseitigen Ufer war es stiller als drüben, hier verebbte der Ansturm der Fremden, denn die meisten Passanten, die das Schloss besichtigten, liessen sich nicht Zeit, die landschaftlichen Schönheiten dieses Ufers zu geniessen. Unter leichtem Geplauder gingen die beiden dahin, und Franz-Ferdinand erzählte, dass er Medizin studiere, dass er sich auf seinen Doktor freue.
Mausi strahlte ihn an.
„Ja, es muss schön sein, seinen leidenden Mitmenschen helfen zu können.“
Bald hatten sie den Philosophenweg erreicht, und ihnen zu Füssen lag der Neckar. Von drüben grüssten jetzt Heidelberg und das Schloss. Die untergehende Sonne breitete ihren flammenden Mantel weit über den Himmel, hüllte alle Nähe und Ferne in brennenden Glanz.
Sie blieben beide stehen und blickten ins Tal; überströmendes Gefühl war in der kleinen Maria Reinhard ob der Herrlichkeit der Welt und des seltsamen Glückes dieser Stunde. Franz-Ferdinand nahm sanft die kleine Mädchenhand.
„Mausi, ich danke Ihnen, weil Sie mir vergeben haben, denn ich kann nicht anders: was mir bei jedem Mädchen sonst wenig Gedanken bereitet hätte, bei Ihnen empfinde ich es klar und deutlich, es war unrecht von mir, Sie zu küssen, es war schlecht.“
Sie blickte ihn mit unsicheren Augen an.
„Nicht mehr davon reden. Ich weiss ja auch, so ein Spaziergang wie der jetzt gehört sich nicht von mir, Mutter jedenfalls würde tüchtig schelten, aber —“
Sie wusste nicht weiter. Er sann flüchtig, was das nur war, was ihn mit förmlicher Elementargewalt zu dem Mädelchen riss. Nie vordem im Leben hatte er das Empfinden gekannt. Niemals.
Er war bisher kein Bruder Leichtsinn gewesen, eine gewisse Schwere liess ihm zuweilen die vergnügtesten Augenblicke zur Qual werden, aber im allgemeinen hatte er die Liebeleien, die sich ihm bisher boten, froh genossen und ihnen nicht nachgetrauert, wenn sie vorüber waren. Jedenfalls hätte er niemals geglaubt, dass ihn ein so winziges Menschenkind in ein Chaos von Gedanken stürzen würde.
Sie gingen weiter und erreichten den Liselotteplatz, liessen sich auf eine Bank dort nieder.
Still war es umher, grüne Zweige hingen tief auf den Gedenkstein hernieder, der von der Pfälzer Prinzessin erzählte.
Franz Ferdinand wies darauf hin. „Auch ein Erinnerungszeichen an sie, die Sie so interessiert,“ sagte er.
Maria Reinhard nickte. „Ja, die Liselott interessiert mich sehr. Eigentlich tut sie mir leid. Ich glaube nicht, dass sie ihren Mann geliebt hat, so Prinzessinnenehen werden doch meist aus Vernunftsgründen geschlossen.“ Sie blickte gedankenverloren vor sich hin. „Ich möchte keine Prinzessin sein, auch heute nicht, wo es in Deutschland keinen Thron mehr gibt, denn ohne Liebe zu heiraten, muss doch furchtbar sein.“
Franz-Ferdinand lächelte ein bisschen schwermütig.
„Sie haben recht, Mausi. Ohne Liebe zu heiraten, mag nicht schön sein, und auf Thronen hatte die Staatsräson ja oft ein gewichtiges Wort mitzureden. Aber nicht immer, ich glaube auch an Neigungsehen zwischen Hochgeborenen.“
Er dachte an Prinzessin Ulla, die er einmal freien würde, und die so wunderschön war — dass man sie wohl lieben musste, trotzdem sie so eisig kühl war.
Maria Reinhard nickte. „Natürlich, auch Menschen, die in Schlössern geboren sind, können sich liebhaben, aber ich glaube nicht recht daran im allgemeinen.“
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