Sie betonte das Wort „Komödiantin“ und das junge Mädchen verstand.
Die Mutter hatte einmal wegwerfend von Marianne Dieter als von einer „Komödiantin“ gesprochen. Irgend jemand hatte es ihr wiedererzählt.
Maria Reinhard war dunkel errötet.
„Liebe Frau Dieter, meine Mutter hat sehr enggezogene spiessbürgerliche Ansichten, Vater denkt anders —“
Marianne Dieter nickte. „Ich weiss ja, Mausi, weiss auch, dass Ihre Mutter es nicht mag, wenn Sie mich aufsuchen. Ich sollte deshalb zu Ihnen sagen: Bleiben Sie fort, Mausi, kommen Sie nicht zu mir. Aber ich kann es nicht, dazu habe ich Sie zu sehr in mein Herz geschlossen. Mausis Besuch ist immer eine schöne Stunde für mich. Mausis Sehnen aus der Enge erinnert mich an meine Jugend, die auch stürmte und revoltierte, und eine Welt erobern wollte.“
Die zierliche Maria Reinhard sah die Aeltere mit leuchtenden Augen an.
„Eine Welt erobern, ach, wer das könnte! Und schliesslich, es braucht keine ganze Welt zu sein, weniger genügt auch, viel, viel weniger. Aber etwas sein möchte ich, von grossen und schönen Dingen um mich herum reden hören möchte ich, und mein Fühlen und Denken nicht immer wie ein engschliessendes Korsett einschnüren. Wäre ich nicht so ein Zwerglein, vielleicht wagte ich es doch, der Mutter von meinem Wunsch zu sprechen, so aber ist’s zwecklos, die Natur selbst stellt mir ein Hindernis in den Weg.“
„Nun, Kind, so schroff dürfen Sie nicht sprechen. Es gibt doch Kompromisse. Natürlich zu einer klassischen Heldin gehört eine entsprechende Gestalt; in unseren modernen Schauspielen und Komödien aber wären diese Figuren oft mehr als schlecht am Platze. So’n modernes Satansweibchen ist meist zierlich und katzenschmiegsam. Ich sehe also keinen Grund, weshalb Sie nicht wenigstens versuchen wollen, Ihren Herzenswunsch zu verwirklichen.“
Maria Reinhard sass mit weitgeöffneten Augen. Noch niemals hatte Marianne Dieter so deutlich gesprochen. Das hiess zugleich: Du hast Talent, Maria Reinhard, deshalb wage es!
Ganz in Sinnen verloren sass die Junge, und die Aeltere wartete geduldig. Blickte hinaus in den Sonnenschein, der die schlechtgepflegte Strasse vor dem Häuschen mit blankem Licht überschwemmte und dachte daran, wie sie Maria Reinhard kennen gelernt hatte.
Vor zwei Jahren war es gewesen. Frau Melcher, die in der vornehmen Sofienstrasse ein Töchterpensionat mit Tagesschule besass, hatte sich durch zufällige Empfehlung an sie gewandt und sie gebeten, als Lehrerin für „Vorlesen und Deklamation“ in den beiden höheren Klassen zu unterrichten.
Sie war sehr gerne dem Rufe gefolgt, hatte sie doch so unendlich viel Zeit, seit sie das Theater verlassen und die Erbschaft einer wunderlichen uralten Tante angetreten hatte. Das Häuschen, darin sie wohnte, dazu ein nettes Kapital, gaben ihren alten Tagen sicheren Boden.
Sie war froh, dass etwas Abwechselung in ihr einförmiges Dasein kam. Von da ab unterrichtete sie in der höheren Töchterschule von Frau Melcher, und dort fand sie das zierliche kleine Wesen, das, talentiert zu allem, ein Herz voll Sehnsucht mit sich herumtrug und eine weiche Stimme hatte, die wie Musik klang, die Verse so zu sprechen verstand, dass man meinte, eine erste Meisterin habe sie ihr vorgesprochen, und die dann, als sie längst die Schule verlassen, immer wieder zu ihr in das kleine Heim der alten Haspelgasse huschte, und von dem Sehnen plauderte, das ihr zuweilen die Brust zu sprengen drohte.
Endlich brach Maria Reinhard das Schweigen.
„Liebe, liebste Frau Dieter, ich bin zu feige der Mutter gegenüber — und wenn ich etwas werden will, muss ich doch lernen —“ Sie stockte und endete dann traurig: „Nein, nein, ich wage es nicht.“
Marianne Dieter strich sanft über die zarten Wangen Marias.
„Sind Sie wirklich so feige, Mausi? — O, das sollten Sie aber nicht sein, denn wenn Sie hinaus wollen in die Welt, dürfen Sie nicht feige sein. Sie wissen doch, dem Mutigen lacht das Glück.“
Marianne Dieter sann flüchtig nach. „Wenn Sie mögen, will ich Sie zunächst unterrichten, ein bisschen Politur ist ja dann später von anderer Hand vielleicht noch nötig, aber die Hauptsache bringe ich Ihnen gerne bei. War dreissig Jahre bei der Bühne, da lernt sich manches.
Maria Reinhard zog die feinen Hände der Aelteren an die Lippen.
„Wie gut Sie sind, liebe Frau Dieter, wie wundergut. Gerne nehme ich Ihren Vorschlag an, ich kann ja gar nicht anders, und Sie werden dann bald erkennen, ob es sich lohnt —“
Ihre Augen blickten verloren ins Weite.
„Wenn es sich lohnt, dann will ich mit der Mutter reden, wenn Sie meinen, ich dürfte es wagen, dann will ich alle Feigheit beiseite setzen. Vater macht sicher keine Schwierigkeiten.“ Sie atmete tief. „Schön wäre es, wenn ich mich so aus dem Alltag herausretten könnte.“
Marianne Dieter sann ihrem eigenen Hoffen von einst nach. Stolze Träume hatte sie geträumt, o, so himmelhoch stolze Träume, aber einer nach dem anderen war verweht wie bunte Seifenblasen. Dreissig Jahre Bühnenleben lagen hinter ihr, keine stolze Perlenschnur von Erfolgen hatte es ihr gegeben, höchstens eine Kette aus Glaskugeln, mit denen sie sich vor anderen aufputzte und deren Wertlosigkeit sie selbst nur allzu gut kannte.
Sie war nie eine Grosse, nie eine Besondere gewesen, sich selbst gestand sie es ein, hatte nur immer brav mitgemimt, keine Rolle verdorben, aber auch keine durch ihr Spiel zu besonderer Bedeutung erhoben. Der göttliche Funke hatte ihr gefehlt und seine angespielte Routine hatte sein Fehlen verbergen können. Aber das waren Dinge, die man sich in grundehrlichen Stunden nur selbst eingestand, die Umwelt, in der sie jetzt lebte, brauchte nichts davon zu ahnen — auch Mausi nicht.
Sie lächelte das Mädchen an.
„Mausi, ich freue mich auf unseren Unterricht, wie schön wäre es, wenn Sie etwas erreichen würden.“
Maria Reinhard war plötzlich ganz strahlende Heiterkeit. Ein jähes, überströmendes Glücksgefühl erfüllte sie.
„Ich will unser Vorhaben und Tun geheim halten, bis ich sicheren Halt erreicht habe — dann trotze ich einer Welt, wenn es sein muss.“
Sie erhob sich.
„Nun muss ich gehen, liebe Frau Dieter.“ Zwei kinderschlanke Arme umfassten die Schultern der alten Dame, ein kleiner warmer Mund küsste ihre gepuderten Wangen. „Ich muss mich sogar sehr eilen, denn Klara Rohmer erwartet mich, Mutters Ideal.“ Sie machte eine drollig wichtige Miene: „Wann darf ich zur ersten Unterrichtsstunde kommen?“
Gleich nach der Antwort wirbelte Mausi hinaus in den sonnigen Maientag, der ganz von blendender, gleissender Helle erfüllt war. Rasch durchhuschte die zierliche Maria Reinhard die alten Gassen und war bald am Kornmarkt angelangt. Ueber den Häuserdächern baute sich die Ruine des mächtigen Schlosses auf, wie zu güldenem Mantel zusammengewoben lag der Sonnenglanz darüber, umhüllte es mit derselben Strahlenpracht wie einst, zur Zeit, als in dem mächtigen Bau noch ritterlich buntes Leben herrschte und Fürsten und schöne Frauen vom hohen Fensterrund ins liebliche Neckartal herniederschauten.
Zweimal wöchentlich huschte Maria Reinhard fortan in das kleine Häuschen der Haspelgasse und Marianne Dieter hatte ihre helle Freude an der lerneifrigen Schülerin. Vor allem brachte sie ihr eine klare, deutliche Aussprache bei.
„Es wird heutzutage im allgemeinen viel zu wenig Gewicht darauf gelegt,“ ereiferte sie sich, „mag sein, dass da früher zuweilen des Guten zu viel getan und das Spiel dadurch gespreizt und unnatürlich wurde. Aber schliesslich lag das auch an dem pathetischen Ton, der einstmals mit dazu gehörte. Modern oder ich will sagen natürlich reden, bedingt doch kein Silbenrunterschlucken oder gar Dialekt sprechen.“ Ihre Miene drückte äusserste Empörung aus.
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