Kein Zurück? Ist es das, was sie will?
Ja. In Gedanken beschäftigt sie sich schon mit einer Rohrverzweigung dort unten.
Zwei Stunden später sitzen alle um den Klapptisch. Platten mit Hähnchenschenkeln und indonesischem Gemüsereis, mit Soße und Brot werden herumgereicht. Alles ist rasch aufgegessen. Nur Ingrid scheint keinen Appetit zu haben.
»Iß!« befiehlt Glenn. »Das gehört zum Job. Essen ist ein Teil der Arbeit, sonst hast du keine Kraft.«
Aber Ingrid ist satt. Ihr macht die Druckveränderung zu schaffen, außerdem verschwinden Geschmack und Geruch in dem flüchtigen Umfeld. Sie begreift nicht, wie die anderen sich so vollstopfen können.
»Wenn man in einer Schicht achttausend Kalorien verbrennt, hat man keine Wahl«, sagt Ian, »habe ich dir das nicht beigebracht!«
»Im Ekofisk-Feld bin ich ohne besondere Kalorienvorgaben getaucht«, erklärt sie scharf.
Ian schnaubt verächtlich. Von diesem Tauchen habe man ja gehört. Sie und ein paar bläßliche Forscher, nicht wahr? Die reinste Luxustaucherei, keine Schichtarbeit und außerdem gerade halb so tief, das könne man nicht vergleichen. Er begreife nicht, was die dort oben sich dabei gedacht haben, Ingrid mit hierher zu lassen!
»Hat es für dich kein erstes Mal gegeben?« fragt sie. »Bist du immer gleich hundertachtzig Meter getaucht?«
Ian sucht nach einer Antwort, doch Glenn kommt ihm zuvor und fragt, ob er Angst habe.
Angst? Wovor sollte er Angst haben? Sie ist ein Risikofaktor, das stimmt schon, aber wenn er Angst hätte, würde er ja wohl nicht mitmachen, oder? Weshalb sollte er sich der Sache dann aussetzen?
Weil er vor etwas noch Gefährlicherem fliehen müsse, antwortet Glenn.
Und das ist?
Das Leben an Land. Normale Luft. Die täglichen Anforderungen, die großen und kleinen, für die es selten eine Medaille oder auch nur eine rote Kokarde gibt.
Ian schnaubt erneut voller Verachtung. Medaillen bekommt man hier ebenfalls nicht. Aber schuften muß man und Risiken eingehen. Doch er klage nicht, und es stimmt, daß sie ein Taucherzertifikat mit seiner Unterschrift hat. Keiner soll kommen und behaupten, er sei feige und wolle vor etwas fliehen. Er stehe zu seiner Verantwortung, das ist alles.
»Hier gibt es keine Risiken«, sagt Glenn. »Wir sind hier sicherer als ein Neugeborenes im Brutkasten. Wir arbeiten mit zwei der erfahrensten Einsatzleiter der Nordsee, und die haben die Ausrüstung durchgecheckt, also daran ist alles okay. Gefahren gibt es trotzdem, und sie sind näher, als man glaubt.«
Als er das sagt, schaut er unentwegt zu Ego Boy hin. Der blickt starr zurück. Alle in der Kammer spüren, wie sich die Atmosphäre auflädt.
»Die Ausrüstung ist in Ordnung«, sagt Ingrid. »Aber der ROV hat Macken, und die andere Taucherglocke ist mit Sondergenehmigung außer Betrieb. Das hier ist ein altes Taucherschiff.«
Der Tauchinspektor hat sich zur Brücke begeben, zum Kapitän des Schiffes. Beide schauen hinüber zur Bohrinsel.
Der Kapitän ist bald sechzig, sehr erfahren, aber ein bißchen müde. Kurz zuvor hat er mit dem Chef der Bohrinsel gesprochen und erfahren, daß man dort mit dem Ab- und Ausschalten begonnen hat. Die Produktion soll eingestellt, die Rohre sollen geleert werden, damit das Taucherteam an die Arbeit gehen kann.
Die Nachmittagssonne vergoldet die Plattform und ein sich näherndes Versorgungsschiff, das Bohrinseln und deren Personal regelmäßig mit Nahrungsmitteln und Material beliefert. Ein Kranführer wartet schon in seiner Kabine, und das Stahlseil hängt baumelnd über der Stelle, wo das Schiff in der unruhigen See liegen und mit einigem Risiko für die Decksmannschaft seine Fracht löschen wird.
Im Kontrollraum der Bohrinsel werden die Computer ausgeschaltet, die Lampen gelöscht und die Bürostühle unter die Tische geschoben. Die drei noch anwesenden Techniker kontrollieren die Instrumente, winken dem Chef der Bohrinsel zum Abschied zu und gehen.
Der stellt sich ans Fenster und schaut auf das Wasser. Es ist schön. Natur pur.
Dann schaltet er die Leuchtstoffröhren an der Decke aus und geht ebenfalls. Der moderne Kontrollraum, in dem sonst fieberhafte Aktivität herrscht, liegt in der einbrechenden Dämmerung still und leer da.
Ein paar Sektionen tiefer, im Herzen der Bohrinsel, hören die Motoren und Pumpen auf zu arbeiten. Es wird still. Nicht ein Mensch ist zu sehen.
Auf der Gangway zur Wohninsel sind die letzten Arbeiter unterwegs zum ersehnten Abendessen und dem Videofilm im Gemeinschaftsraum. An Bord der Bohrinsel befinden sich nur noch eine Handvoll diensthabender Leute und ihr Chef. Er ist seit einem Monat hier draußen und wirklich erschöpft. Planlos geht er über die Plattform und kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Die Unterbrechung des Betriebs sieht er als Möglichkeit, um im kleinen, aber bequemen Ruheraum sein Schlafdefizit auszugleichen. In ein paar Tagen winkt dann für mehrere Wochen die Freiheit.
Der Bohrinselchef erreicht den stillen Maschinenraum, gähnt ausgiebig und setzt seine Runde fort.
Die Taucher sind nicht müde. Am ersten Abend fällt es schwer, zur Ruhe zu kommen. Die vier Männer spielen Whist und trinken Kaffee. Sie haben Ingrid angeboten mitzumachen, aber sie ist auf dem Bett liegen geblieben und liest in einem Krimi.
Endlich auf der richtigen Bahn, unterwegs. Ihre Augen folgen den Zeilen, doch immer wieder muß sie im Text zurückgehen, weil sie an andere Dinge denkt.
Sie ist jemand, der sich nicht leicht beirren läßt, alle sagen das. Vielleicht sagen sie sogar – dann, wenn sie nicht dabei ist –, daß sie schwerfällig und phantasielos sei? Ingrid ist durch und durch Technikerin, für Technik interessiert sie sich nun einmal am meisten, besonders für die unerreichbare, von der sie in ihrem Leben höchstens eine vage Ahnung erhalten wird. Hinter den klaren mathematischen Strukturen steckt ein Geheimnis, das sie lockt.
Sie hat jede Menge Freunde, an die sie denkt. Die Freunde waren ihre Familie, doch Heirat oder Jobs an anderen Orten zerschlagen allmählich die sichere Gemeinschaft. Ohne ihre Freunde hätte sie das Zertifikat nie gemacht. Deren Fröhlichkeit und Humor haben ihr über die ersten Barrieren an der Taucherschule hinweggeholfen und helfen ihr auch jetzt noch. Wie sie lachen werden, wenn Ingrid Ego Boy und Bengt beschreiben wird, von Ians Miene gar nicht zu reden, als ihm klar wurde, daß sie beide zusammen tauchen würden!
Wenn nur ihre Mutter nicht so vergrämt gewesen wäre. Ingrid gibt ihr in vielem ja recht. Aber diese Unversöhnlichkeit, diese Verbitterung und dieser Haß. Ja, dieser Haß auf die Männer. Vater hatte bestimmt gute Gründe für sein Verschwinden.
Nur einmal war er wieder aufgetaucht, an ihrem fünfzehnten Geburtstag. Damals hatte sie die Taucherausrüstung bekommen. So hatte alles angefangen. Nur dieses eine Mal hatte er sie besucht und damit ihrem Leben die Richtung gegeben.
Aber davon weiß hier niemand etwas, und sie wird es auch nie erzählen, denn der Vater ist ihr wunder Punkt. Der schmerzt. Dieser Raum über dem Abgrund und die Erinnerung an die einzige Umarmung tun ungeheuer weh. Diese winzigkleine Flamme, an der sie sich immer wieder gewärmt hatte, denn wenn sie ihn wirklich brauchte, war er nicht da, nicht bei ihr. Nur diese Umarmung gab es, damals, als sie fünfzehn geworden war und er ihr gezeigt hatte, wie man taucht. Auf dem Flugplatz, als er nach Florida zurückkehren sollte, hatte er die Arme um sie gelegt. Eine verschämte Geste, vielleicht aus schlechtem Gewissen? Die fünfzehn Jahre ließen sich schließlich nicht nachholen.
Keiner hatte damals etwas gesagt. Der grobe Stoff seines Jacketts an ihren Lippen. Es war nur eine flüchtige Umarmung, so als halte ein Luftgeist sie umfaßt. Er hatte es eilig. Er fuhr weg. Nach einem Jahr kam ein Päckchen.
Dennoch rettete diese Geste ihr vielleicht das Leben. Damals hatte sie begonnen, sich eine Zukunft aufzubauen.
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