Aino Trosell
Saga Egmont
Eine grenzenlose Liebe
Aus dem Schwedischem von Gisela Kosubek nach
En gränslös kärlekshistoria
Copyright © 2005, 2017 Aino Trosell og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711442340
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
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Für meine Familie
Sie hatte sich oft gefragt, wie man nach einer nächtlichen Vergewaltigung am nächsten Tag ganz wie immer sein konnte – Essen kochte, putzte, Wäsche wusch und für die Kinder sorgte.
Sie hatte sich gefragt, wie man sich wohl verhielt, wenn der Vergewaltiger in die Hütte trat, die Mütze ablegte, auf dem Stuhl Platz nahm und einen ansah, während man das Essen auftrug.
Ob man seinen Blick erwiderte?
Oder ihm auswich?
Auf jeden Fall rannte man nicht aus dem Haus und übergab sich, weinte und klopfte bei den Nachbarn.
So etwas tat man nicht zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, denn ein solcher Ausweg existierte nicht. Zudem hätte man die Kinder erschreckt. Vergewaltigung in der Ehe wurde auch erst irgendwann in den Sechzigern als Straftat angesehen.
Du lagst auf dem Bauch. Kämpftest mit deinem ganzen Körper. Am Ende gelang es dir, den Kopf anzuheben.
Erstaunt begegnetest du meinem Blick. Du warst ein paar Monate alt, und dein Blick saugte sich an meinem fest, und obwohl er noch immer unergründlich und rätselhaft wie so oft bei Neugeborenen war, so drückte er zum ersten Mal auch etwas anderes aus – Entschlossenheit. Du wolltest hoch, zuerst mit dem Kopf, später auf die Knie, danach auf die Füße, wolltest nicht nur diese ersten Schritte machen, wolltest mehr als dieses Tapsen. Du wolltest gehen und dann laufen, schnell laufen, und eines Tages würdest du mir davonlaufen, mein schönes Mädchen – direkt in die Sonne hinein, wo ich dich nicht mehr erreichen könnte, weil mir allmählich die Puste ausginge und ich nicht so rasch laufen könnte wie du.
Alles geht so schnell. Deine weißen, gänzlich makellosen Zähne strahlen, als du in der Ferne lachst, auf dem Weg fort von mir. Dein Leben, das so plötzlich begonnen hatte, ist bereits das einer Erwachsenen, und ich bin nicht mehr jung. Diese Großmutter, die ich hatte, und deren Mutter sowie meine eigene – deine weiblichen Vorfahren, die uns beide formten und prägten, hast du nie kennengelernt, bist nur manchmal in meinen bruchstückhaften Erzählungen auf sie gestoßen.
Du bist Teil der Geschichte, wie man als Frau Mensch wird.
Ich habe nicht davon geredet, denn es war nie eine große Sache. Die Scham war im Weg, die Bitterkeit meiner Mutter, dass wir uns hatten erniedrigen lassen und tief innen glaubten, nichts anderes wert zu sein. Wie erstaunt war ich, als du den Feminismus als Thema für dein Oberstufen-Referat gewählt und dann später an der Universität einen solchen Kurs belegt hast. Ich habe diese Fragen doch nie wirklich mit dir diskutiert, glaubte schließlich selbst, nicht sonderlich daran interessiert zu sein. Es muss all das andere sein, das dich mit seinen Forderungen und Codes an dieses Thema herangeführt hat. Oder habe ich doch wortlos irgendetwas vermittelt?
Natürlich begreife ich, dass du dir Fragen gestellt haben musst – schließlich fehlt so vieles. Einzig die Forderungen sind da, wie man zu sein hat.
Wie wir hierher kamen und zu dem wurden, was wir heute sind, will ich dir jetzt versuchen zu erzählen, es ist deine und meine Geschichte.
Nein, sie handelt nicht nur von dieser Scham. Auch von der Freude, der Triebkraft und der Energie. Es muss möglich sein, Konventionen vom echten Leben zu trennen.
Als du geboren wurdest, war der Weg bereits vorgezeichnet, ich werde es dir zeigen.
Ich stelle keine Forderungen. Ich tue nur meine Pflicht, dir all das zu berichten, dann liegt es bei dir, wie du damit lebst. Du sollst es einfach wissen.
Wo warst du vor deiner Geburt? Ja, zuerst in unseren Herzen, bei uns, die deine Eltern wurden. Wir wussten nicht, dass wir mit dir schwanger gingen. Alles war nur so hell geworden, so voller Freude. Ich strahlte und lachte, ich war froh. Dein Vater war froh. Und wir waren miteinander froh. Es war schön, auf dein Kommen zu warten, auch wenn man sich hin und wieder Sorgen machte, ob auch alles gut gehen würde.
Ein Kind hat Vater und Mutter, einer ist so wichtig wie der andere. Du hast deinen Vater nie vermissen müssen, er hat dich nie im Stich gelassen. Er hat dich vom ersten Augenblick an geliebt, war dir gegenüber stets aufmerksam, hat sich bemüht zu verstehen, was du brauchst. Er war ebenso wichtig für dich wie ich. Doch in dieser Geschichte müssen wir ihn beiseitelassen, denn hier will ich der weiblichen Linie folgen.
Es ist so ungewohnt, in diesen Bahnen zu denken, also muss ich mich zwingen, muss mich anstrengen, um mich zu erinnern. In meinem Leben dominieren die Geschichten der Männer. Mein Vater war kein Vater, wie du einen hast, diese Aufgabe verstand er nicht. Dennoch konnte er erzählen, und darüber verfüge ich auch.
Auf Seiten meiner Mutter fließen nur stille Ströme, und die führen nach Norwegen hinüber. Als Arbeitstitel für diesen Text hatte ich deshalb »Das Norwegenbuch« gewählt; auch wenn ich nicht davon ausging, dieses Buch jemals fertig zu bekommen. Der rote Fluss des Blutes westwärts und nordwärts – hoch ins Gebirge, den Klarälven stromaufwärts, dorthin, wo er zum Trysilelva wird, am Fuße des Trysilfjells graben sich feinste Rinnsale und Wurzelfasern in die Erde.
Als Frau Mensch zu werden ist mit Scham belegt, nun werde ich dich dennoch dorthin führen.
Einstieg
… Großmutter erzählte mir einmal vom Leben in
ihrer Ehe, danach lag ich stundenlang da und heulte Rotz
und Wasser. Dennoch war ich erst siebzehn Jahre alt.
Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich an all das
denke, was sie erzählt hat. Dass es möglich ist,
so etwas zu überleben.
(Aus einem Privatbrief)
Ich war erst siebzehn Jahre alt, als Mama in Malung im Bett der Küchenkammer starb, und erst acht Jahre alt, als die Mutter meiner Mutter in der Stube von Sysslebäck starb, sie starb gestiefelt und gespornt, kann man sagen, denn ihre letzten Worte waren: Hilf mir, die Stiefel auszuziehen , das weiß ich noch genau.
Sie war aus dem Regen hereingekommen und plötzlich unpässlich geworden. Großvater hatte »Stina, Stina« gerufen, doch was helfen solche Rufe, wenn jemand über die Grenze tritt. Nein, da hatte er sich geschnitten, der Dreckskerl, tönt Mamas Stimme in meinem Kopf. Nun konnte ihr der Alte nichts mehr befehlen, saß nur noch da und vergoss Krokodilstränen, vergaß vollkommen, dass er in diesem Moment kein Publikum hatte.
Es ist nicht viel übrig. Ich erinnere mich natürlich an die Geschichten, und ein paar Fotos besitze ich auch, die meisten sind alt und vergilbt. Eins aus Amerika, ich weiß nicht, wer die Leute darauf sind. Mutters Onkel hatte sich auf den Weg gemacht, und später war er nach Europa zurückgekehrt, nur um im Ersten Weltkrieg in einem Feldlazarett zu sterben, gezeichnet und zerrüttet von Krieg und Alkohol. Ansonsten sind wir um den Gebirgskamm wohnen geblieben.
Eine Ansichtskarte zeigt Sysslebäck, am Rand das Elternhaus meines Großvaters mütterlicherseits. Der Ort ist von Bergen umgeben, und der Fluss windet sich diagonal durchs Bild, kommt von Norden, aus Norwegen. Die Karte ist alt und vergilbt. Sie ist an Fräulein Edit Dalborg, Idbäck, Malung gerichtet, und der Text lautet: Herzl. Dank für den Brief vom 22.10. Stina am 26. selbigen Monats nach Trysil abgereist. Ines vom Bengtsmarithof fährt am 11.11. zu Samuel Persson Grimsmyrheden (Malung). Hier alles gut. Herzl. Grüße von Papa.
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