Sie hatten wohl keine Wahl. Man gab sich die Hand, und Eli knickste schüchtern vor ihrem Vater, den sie trotz der heimischen Enge nie wirklich kennengelernt hatte. Er fehlte ihr nicht im gleichen Maße wie die Mutter. Der Weg schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, er führte in die Zukunft. Jetzt entschied sie sich. Die Gedanken an die Mutter musste sie unterdrücken.
Der Vater blieb stehen und winkte. Als Eli sich umdrehte, kurz bevor sie hinter einer Biegung verschwanden, stand er noch immer am gleichen Fleck. Sie hob den Arm. Und er winkte zurück.
Ein solches Bild verschwindet nicht, falls es sich so ereignet hatte.
Aber warum wanderten sie nach Osten und später dann nach Norden? Logischer wäre doch gewesen, die westliche Richtung nach Stange, zum Mjøsa-See oder gar nach Hamar einzuschlagen? Zumal das auch näher lag. Diese Gegenden waren von alters her wohlhabend, dort gab es gute Ackerböden, große Höfe, und der große See hatte Handel und Verkehr befördert.
Doch meine Theorie ist, dass zwei so junge, viel zu magere und unerfahrene, arme, kindliche Mädchen vielleicht gerade wegen dieses Wohlstands dort schlechtere Chancen für eine Anstellung gehabt hätten. Die reiche Landwirtschaftsgegend zog sicher Mägde ganz anderen Formats an, bedeutend reifere und kundigere, die von überallher kamen. Für derart junge Mädchen gab es nur Arbeit bei ärmeren Leuten auf Höfen, die in Richtung der großen Wälder lagen.
Das Ganze war also durchdacht. Sie zogen keineswegs aufs Geratewohl los, nein, sie hatten ein Ziel. Dennoch landeten sie an ganz unterschiedlichen Orten, obgleich sie doch so gefährdet und aufeinander angewiesen waren.
Während dieser Wanderung musste ein starkes Band zwischen den Mädchen geknüpft worden sein, sonst hätte Eli als Erwachsene wohl nicht die Hilfe ihrer Tante gesucht, statt die der Familie. Im Zustand des Schocks setzte sie all ihr Vertrauen in die fünfzehnjährige Hildur, die schließlich schon groß war, den Zopf bereits um den Kopf gesteckt trug, und deren Busen sich unter der Bluse wölbte.
Eli hätte ihre Hand halten wollen, getraute sich aber nicht, sondern trabte hinter ihr her, was als Fortbewegungsart nur logisch ist, wenn man so lange Strecken zu Fuß geht.
Es waren dreißig Kilometer bis Elverum, dort blieben sie in der ersten Nacht. Sie kannten jemanden oder kannten einen Ort, an dem sie übernachten konnten. Verpflegung hatten sie selbst dabei. Alles war gut.
Eine Achtjährige – Ende Oktober sollte sie acht Jahre alt werden – ermüdet dennoch ungemein. Als Hildur sie am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe weckte, musste sie das Kind aus dem Heu ziehen, in dem die beiden gelegen hatten. Eli zitterte und fror und wollte nicht aufwachen. Hildur schlich mit ihr in den Kuhstall, in dem die Mägde, die beim Melken saßen, ihr freundlich zunickten und wo im Kamin ein Feuer brannte zum Kochen von Molkenstreichkäse. Eli durfte sich wärmen, quengelte jedoch wie ein kleines Kind und wollte ein Stück vom Zuckerhut, am Ende ließ sich Hildur darauf ein.
Eine der Mägde gab dem Kind heimlich eine Tasse kuhwarmer Milch. Eli hickste vor Dankbarkeit und trank, oh, das schmeckte! Die Fremden waren nett.
Allmählich kehrten ihre Kräfte zurück, und sie konnten weiterwandern. Der Form halber hatte Hildur sich erkundigt, doch nein, niemand kannte hier im Tal jemanden, der ein paar Kleinmägde brauchte.
Hildurs Plan war, nach Innbygda in Trysil zu gehen, sie hatte gehört, dass andere, die dorthin gewandert waren, bleiben durften.
Obwohl Eli noch so klein war, war Hildur dennoch froh, sie bei sich zu haben und die ausgedehnten Wälder nicht allein betreten zu müssen, es war so schon schaurig genug. Der Weg durch den Wald war viel schlimmer als jener bis Elverum, eine einsame junge Frau konnte schnell ein bisschen ängstlich werden. Deshalb war es gut, dass Eli bei ihr war, aus einiger Entfernung konnte man sie sogar für Hildurs Kind halten. Es war jemand zum Reden da, und man war nicht allein.
Nach mehr als zwanzig Kilometern waren Elis Kräfte erschöpft. Als sich Hildur umdrehte, sah sie das Mädchen im Beerenkraut liegen. Geh du vor, Hildur, ich komme nach.
Es dämmerte. Doch obwohl Hildur darauf geachtet hatte, dass sie im Morgengrauen aufgebrochen waren, hatten sie noch immer keinen Hof erreicht. Sollte sie dieses Kind jetzt etwa tragen müssen? Das schaffte sie nie, nicht auf die Dauer. Sie war zwar stark, aber der Pfad war steinig und beschwerlich. Elis Vater hatte robustes Schuhwerk für sie angefertigt, doch es scheuerte, und eigentlich war auch sie ziemlich erschöpft, hatte aber nicht gewagt, diesem Gefühl nachzugeben.
Sie hätten bei ihrem nächsten Haltepunkt, dieser Kate, schon längst angekommen sein müssen. Hildur brachte Eli auf Trab, obwohl sie jammerte, stolperte, hinfiel und vor Weinen hickste, was sich obendrein zu einer Art Krampf auswuchs.
Strenge Worte, allerlei Drohungen und Schreckensbilder von Trollen und ähnlichen Ungeheuern trieben das Kind noch eine Weile weiter, doch dann wurde Hildur klar, dass das Mädchen bereits schlief, obwohl es noch immer in Bewegung war, es fiel der Länge nach hin und hatte Glück, dass es sich nicht den Kopf an den Steinen stieß.
Es war spät geworden. Am Ende verließ Hildur auf einer Anhöhe den Pfad, hier war eine kleine Lichtung, vielleicht beim Viehauftrieb abgeweidet.
Sie sammelte Zweige und Gras und steckte sie in Brand. Eli hörte auf zu schluchzen und sank still neben das Feuer.
Sie aßen das Brot auf. Hildur hatte noch Sauermilch übrig, und sie sagte nichts, als Eli bat, ihr vom Zuckerhut ein weiteres Stückchen abzuhacken, vielmehr nahm sie selbst einen Brocken an.
Hildur hatte eigentlich geplant weiterzuziehen. Aber jetzt war es bereits überall stockdunkel, am Feuer aber hatten sie es warm und schön. Sie lehnten sich immer mehr aneinander. Am Ende lagen sie dicht nebeneinander und schliefen so fest, dass selbst wilde Raubtiere sie nicht hätten wecken können.
Im Morgengrauen brachte die Kälte sie in ihren eiskalten Fängen zum Zittern.
Hildur sagte, es könne nicht mehr weit sein. Aber jetzt ging es Eli noch schlechter als am Morgen zuvor, sie weinte ununterbrochen. Was sollte Hildur tun?
Bei Tageslicht konnte man das Kind auch nicht so leicht erschrecken. Deshalb griff Hildur zu einer moderneren Methode, sie redete ihr gut zu. Sie versprach, wenn Eli das letzte Stück zu diesem Finnenhof, der Kate oder was immer es sein mochte, auf eigenen Füßen zurücklegen würde, könnte sie ihretwegen dort bleiben. Wenn man sie haben wollte, natürlich, ja, vielleicht nahmen die Leute sie ja alle beide.
Eli gehorchte, stand auf und ging. Hildur atmete auf und schämte sich nicht sonderlich, dass sie die Kleine auf so einfache Weise getäuscht hatte. Die Leute würden sie ganz gewiss nicht dabehalten. Hildur würde ihnen zuzwinkern, wenn sie ihre Frage stellte, damit sie begriffen, dass es sich um eine Verschwörung handelte.
Doch während dieser letzten fünf Kilometer schmiedete Eli ihre eigenen Pläne. Mochte kommen, was da wollte, sie würde kein Stück weiter gehen als bis zu diesem Hof. Ihre Beine und Füße schmerzten, und sie sehnte sich zurück, wollte jetzt nicht noch länger wandern, dann fände sie nie mehr zur Mutter und den Geschwistern heim. Den Vater vermisste sie wohl gar nicht?
In den Aufzeichnungen steht: »Eli wurde unehelich geboren, und sie war Magd in Rönningen Östby, wo sie in einer Erdhöhle wohnte. Frühere Angaben zu Eli gibt es nicht, bis auf die Namen ihrer Eltern.«
Wenn sie also unehelich geboren war, existierte vielleicht der Vater in ihrem Alltag gar nicht? Allerdings ist sein Name im Kirchenbuch verzeichnet, er hat die Vaterschaft anerkannt.
Als sich endlich ein Rauchstreifen zwischen den Bäumen zeigte, hatte Eli ihre Überlegungen abgeschlossen. Der Wald öffnete sich im selben Augenblick, als die müde Oktobersonne hervorblinzelte und die letzten Blätter der Ebereschen auf dem offenen Gelände vergoldete. Man hörte es meckern, es gab Ziegen dort. Der Hof war kleiner, als sie gehofft hatten, und bestand eigentlich nur aus einer kleinen Scheune und einem Wohnhaus, das halb in den Hang eingegraben war.
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