In diesem Augenblick tritt Lehrer Klagg auf die Steintreppe und klatscht in die Hände. Dann beginnt wieder die Schule. Und dann wird Hjördis’ unbegreifliches Herz wieder ruhig, und das strahlende Feuer in ihren Augen erlischt.
Hjördis sitzt da und schaut den alten Lehrer an und sagt plötzlich mit ihrer weichen, schwebenden Stimme: „Das mit dem Zahn war nur Schwindel … Monrad ist auch in eine Bergdistel gefallen. Er fiel mit dem Gesicht darein. Man muß auch ihm Salbe aufstreichen.“
So setzt dieses Mädchen schließlich wieder seinen Willen durch.
An diesem Tage gibt es verschiedenes zu besprechen in den paar grauen Häusern von Tyremoen. Sollte denn das gar nichts zu bedeuten haben, daß Finns Tochter und der Häuslerbub zu gleicher Zeit auf so seltsame Weise an Hand und Wange erkrankten? Kein Mensch wollte doch an die Bergdistel glauben. Keiner wußte, was es in Wirklichkeit zu bedeuten hatte: Es mußte in jedem Falle etwas Schlimmes sein.
Und dann die Fiedel! Wie konnte denn dieser Bursche im Größenwahn nur darauf verfallen? Eine Fiedel? Hoho — dieses Platzmannsvolk wollte sich schon gar zu groß und zu breit machen. Die Kinder hatten ganz recht, wenn sie über des alten Lehrers törichte Worte lachten.
Die Alten lachten auch darüber. Die Alten sagen: „Das ist, hol’s der Teufel, aufgelegter Humbug in alle Ewigkeit hinein. Und es ist zudem auch noch sündig, so zu reden. So etwas Verrücktes! Nur der Mensch hat eine Seele; denn er allein ist von allen anderen Dingen Gott ähnlich …“
Aber sonst, meinen die Alten, sei der Lehrer Klagg ein herzensguter Mann, ein Kernmensch in allen Teilen. Und sie mögen ihn jetzt nur noch besser leiden, weil er ihnen endlich auch eine schwache Stelle offenbarte.
Der Lehrer Klagg, dieser Schwärmer und Kernmensch schmiert nicht nur dem Häuslerbub die gute Salbe auf die Wange, er wandert auch am selben Abend schon hinauf in die Kätnerhütte und gibt sich noch lange nicht mit seinem kuriosen Gerede und versetzt auch die stille Witwe Karen in Aufregung. Ja, und gleich fängt er, weiß Gott, schon selber zu feilen und zu schaben an, und hilft nach Kräften mit beim Bau dieser sündigen Fiedel.
Der Lehrer Klagg geht persönlich zum Hofbauer Finn und bittet um die Leimpfanne. Rein verrückt wie er ist. Der Lehrer geht noch einmal in Finns Haus zurück und holt den zweiten Bogen aus seinem schwarzen Geigenkasten. Und er holt vier neue Saiten. Und auf diese Art und Weise mußte es natürlich schon gehen. Es geht jetzt sozusagen im Sturm.
Auf einmal erklingt in der Kätnerhütte der erste Ton. Karen, die Witwe, hat hiermit Grund und Ursache genug, zu staunen und die Hände über ihrem Kopfe zusammenzuschlagen. Sie muß nun zwischen Stolz, Freude und Schreck laut herausrufen: „Nein, aber Lehrer Klagg! Wo denken Sie nur hin? … Nein, nein — dieses ist viel zuviel … Was tun Sie? Und was soll denn der Bub mit einem solchen Spielinstrument? Nein — Gott segne Sie für Ihr gutes Herz …“
Oh, diese Karen ist so aufgerüttelt in ihrer einfältigen Seele und vollständig wirr im Kopfe. Sie mengt alle Worte und Gefühle hoffnungslos durcheinander und weiß gar nicht, wie sie ihre Dankbarkeit und Unterwürfigkeit bekunden soll.
Eigentlich ist alles, was Karen sagt, doch nur leeres Geschwätz, auf das in dieser Stube niemand hört. Denn es sitzt nun der alte Lehrer auf dem Bett, und Monrad legt seine Fiedel unters Kinn. Monrad streicht mit dem Bogen zum ersten Male über die Saiten. Hier steht Monrad und spielt. Er spielt und läßt seine Knabenseele erklingen.
Er hat nicht die Augen geschlossen. Er hält die Augen so weit offen, als starre er in eine tiefe Nachtfinsternis. Er muß wohl einen Himmel mit vielen großen Sternen sehen …
Weil Karen mit ihrem Gerede nicht Ruhe geben will, hebt der Lehrer die Hand und winkt und gebietet ihr, zu schweigen.
„Schau doch nur sein Gesicht an, gute Mutter Karen! Schau dir doch nur diese Augen an! — Seine Seele ist fern …“ flüstert der Lehrer Klagg.
Darin mag der alte komische Mann recht haben.
Monrad beugt den Kopf vor, sein Körper schwankt und flattert leise wie ein Baum im Sturmwind. Über ihm liegt etwas Fremdes und Fernes, etwas so völlig Neues und Unbegreifliches, daß Karen erschrickt und ängstlich die Stube verläßt.
Es sind ja ganz gewiß verwunderliche Töne, die hier erklingen unter unkundigen Fingern. Das gleicht einem wilden Wirbel von Lauten, der brausend aus tiefer Quelle aufklingt. Monrad, der Knabe, wühlt entrückt in Geräuschen. Es ist ein Sturzbach von Stimmen, ein wirres Toben, ein Orkan.
Auch den Lehrer packt ob solchem Ausbruch Bestürzung und eine seltsame Bangigkeit. Er starrt verwirrt auf dieses Häuslerkind, das da von einer unerhörten Gewalt erfaßt worden und nun in gott- und weltvergessener Einsamkeit steht. Monrad gibt sich dem Wunder völlig hin, wie nur ein Kind sich hingeben kann.
Der Lehrer hat nun wohl begriffen, daß hier etwas Ungewöhnliches geschieht.
Der Lehrer mag sich das eigentlich anders und ungefähr so vorgestellt haben, daß er diesem Knaben das Instrument erklären wird, wie es ihm einmal erklärt wurde, daß er ihm die ersten Griffe zeigen wird, wie man sie ihm gezeigt hat. Aber nein, hier gibt es zu dieser Stunde durchaus nichts zu unterrichten. Der Lehrer verliert sogleich jede Führung und Überlegenheit vor der Naturgewalt, die da vor seinen Augen so ungestüm losbricht. Diesen Sturm muß er vorüberbrausen lassen. Zögernd verläßt auch der Lehrer Klagg die Stube.
Der Lehrer geht über die Wiese zum Strande hinunter, die Hände auf dem Rücken und den Kopf schwer von Unbegreiflichkeit und ernsten Gedanken.
Monrad spielt indessen.
Karen kommt wieder zurück und macht Feuer im Ofen. In irgendeiner Weise glaubt sie, es sei Festtag, und sie kocht Wasser und mahlt wahrhaftig ein paar Kaffeebohnen. Monrad spielt weiter.
Der Himmel verliert allmählich seine Farbe. Am Fenster steht schon die weiße Frühlingsnacht. Monrad spielt immer noch. Karen muß ihm in den Arm fallen.
„Aber jetzt, Bub!“ ruft Karen. „Gott bewahre meine arme Seele — hör endlich auf!“
Ja, Karen muß ihm Geige und Bogen aus der Hand nehmen. Sie muß ihn auf den Schemel hinter dem Tische niederdrücken. Sie muß ihm immer wieder zurufen: „Iß, Bub! So iß doch — sieh, ich habe Kaffee gekocht. Und ich habe Waffeln gebacken … Du bist ja völlig krank — nein, Gott tröste mich!“
Unter all diesem Gerufe und halbem Schelten kommt Monrad wieder zu sich selber zurück und greift mit erstauntem Lächeln und seufzend nach der Tasse. Ganz gewiß kehrt er von weither zurück. Er wird allmählich wieder zum stillen, blassen Häuslerbuben auf Tyremoen.
Am folgenden Morgen geht Monrad in die Schule wie alle Tage, und es ist kein Unterschied zwischen ihm und den andern Kindern, höchstens daß sein Kittel vielleicht ein wenig älter und mehr geflickt ist. Der Lehrer Klagg macht aber immer noch großes Wesen mit dem elenden Häuslerbub. Das hätte der gute alte Mann durchaus nicht tun sollen; denn es gereichte allen beiden nur zum Schaden.
Die Leute blickten diesen Monrad nun an. Was war eigentlich an ihm? Nichts. Er war nicht klüger, er war wohl auch nicht dümmer als andere. Er war schläfrig und ging herum und träumte mit offenen Augen …
Jetzt zum Beispiel sitzt er da und starrt übers Meer hinaus; und er erschrickt heftig, wenn der Lehrer Klagg ihn anruft. Was soll vielleicht Großes dabei sein?
„Wo hast du deine Gedanken, Knabe?“ muß nun der Lehrer Klagg schon wieder in einfältiger Neugier fragen. „Wo warst du eben?“
„Ich?“ fragt Monrad verwundert und schämt sich.
Alles rein zum Lachen. Es ist nichts Besonderes an ihm. Nur diese Fiedel …
Die Leute von Tyremoen wundern sich immer mehr über den Lehrer und ärgern sich immer mehr über den Häuslerbub.
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