Robert Heymann
Würden Sie Gerda Holl verurteilen?
Saga
Würden Sie Gerda Holl verurteilen?
German
© 1931 Robert Heymann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711503768
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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„Würden Sie die Angeklagte verurteilen?“ Die Frage gilt nicht nur für den vorliegenden Roman. Sie ist eine Frage unserer Zeit. Sie schwebt tausendmal auf den Lippen der Unbeteiligten, die Prozesse und Verhandlungsberichte verfolgen. Aber vielleicht erscheinen uns die aktuellen Prozesse nur darum so problematisch, weil wir so wenig Fühlung mit dem Gestern haben. Unser Zeitalter liebt die Schnelligkeit. Immer neue Eindrücke stürmen auf uns ein. Niemand hat Muße, über Vergangenes nachzudenken. Und doch ist die Justiz als Problem keine ausschließliche Angelegenheit unserer Epoche. Man denke nur an die Satiren Daumiers, Gilberts, Bennets. Jedes Zeitalter, jedes Land weist Autoren und Zeichner auf, die die Justiz in der heftigsten Weise angegriffen haben. Schon vor dem Kriege gab es auch in Deutschland viele Prozesse, hinter denen der Schatten eines Fehlurteils stand. Man erinnere sich des „Falles Hau“, man denke an den Steinheil-Prozeß, an den Freispruch der Brunhilde W. in Düsseldorf. Aus einem einfachen Offiziersprozeß wurde die „Affaire Dreyfuß“. Die Gegner der Todesstrafe führen im Laufe der letzten Jahrhunderte ungezählte Justizmorde auf.
Der Roman: „Würden Sie Gerda Holl verurteilen?“ ist auf Tatsachen aufgebaut, die noch in der Erinnerung vieler Leser haften werden. Die Heldin dieser Tragödie lebt noch. Es war also ein Gebot des natürlichen Gefühls, nur das Wesentliche der Begebenheit zu benützen. Aber obgleich die Handlung im Interesse der Spannung vertieft wurde — das Leben bietet ja immer nur Rohmaterial — trotzdem der Mordprozeß also einige Erweiterungen erfahren hat, ist das Tatsächliche grundlegend geblieben. Das Leben hat hier einen der interessantesten Konflikte geschaffen. Im Roman ist, wie im Prozeß, der Ausgang der gleiche. Er versöhnt mit der Unerbittlichkeit des Schicksals, das diese verwirrenden Fäden gesponnen hat, und mit der Tatsache, daß die Justiz eine menschliche Einrichtung und die Richter den menschlichen Fehlern unterworfen sind. Es ist notwendig, das immer wieder zu betonen. Es ist Demagogie, die Justiz und die Richter in ihrer Gesamtheit deshalb ständig anzugreifen.
So lange es eine Gerechtigkit gibt, werden Ungerechtigkeiten geschehen. Umsomehr gereicht es der Menschheit zur Ehre, daß Fehlgriffe mit derselben Heftigkeit bekämpft werden, mit der wir für nachgewiesene Verbrechen die gerechte Sühne fordern.
In dem vorliegenden Roman ist die Aufklärung Konstruktion des Autors. Das Drama selbst, dessen Schauplatz aus oben erwähnten Gründen verlegt werden mußte, endete mit einer Frage, die bis heute unbeantwortet geblieben ist.
Robert Heymann.
Es war noch früh am Morgen, kaum sechs, als der Wagen des Legationssekretärs Michael von Riedner vor dem Hause in der kastanienbestandenen Straße vorfuhr. Der Chauffeur hupte mehrmals, aber kein Gesicht zeigte sich an den dicht verhängten Fenstern.
Das Herbstlaub raschelte um Michaels Füße.
„Wundert mich“, murmelte er. „Holl ist doch Frühaufsteher — sechs Uhr — das ist seine Zeit —“
Er suchte nach dem Schlüssel, der die große Eisenpforte öffnete, und stand einige Augenblicke unschlüssig, wo er seinen Reisekoffer unterbringen sollte, der hinten an dem schmutzverkrusteten Auto angebracht war.
Da öffnete sich langsam und kreischend die Haustür des Wirtschaftsgebäudes, und Johanna Kargiewicz schlürfte heraus. Sie war eine für ihre vierzig Jahre noch schöne Person, robust und doch leichtfüßig. Sie besaß das einnehmende Äußere gesunder Landfrauen, die keine Schönheitsmittel verwenden. In dem frischen Gesicht standen rote Lippen, die Augen waren jung, die Gestalt nicht gealtert.
Sie bleibt jung wie Frau Gerda, dachte Michael, während er ihr lächelnd entgegensah. Johanna Kargiewicz ging aufrecht und hatte rasch die Schlaftrunkenheit abgeschüttelt, als sie den Ankommenden erkannte. Mit schnellen Schritten eilte sie näher und öffnete mit einem lauten „Willkommen, Herr Legationssekretär!“ die schwere Eisenpforte.
Michael trat mit einem Gruß ein. Er schüttelte Johanna die Hand, während sein Blick über den Rasen flog, der noch grün und gepflegt vor ihm lag. Die Bäume standen beinahe sommerlich dunkel und waren noch dicht belaubt.
„Ich hatte Herrn Holl doch depeschiert, daß ich komme“, sagte Michael.
Johanna lächelte. Ihr Gesicht zeigte einen Zug von plumper Vertraulichkeit.
„Vielleicht wollte Herr Holl die gnädige Frau nicht im Schlaf stören!“
Michael sah nicht in ihr Gesicht, denn er fühlte, daß sie ihn prüfend und lauernd anblickte. Sie war seit vielen Jahren Vertrauensperson im Hause, mehr Vertraute Frau Gerdas, wie es schien, als des Gatten.
„Und wo ist Fräulein Helen?“ fragte Michael, auf das helle und stille Haus zuschreitend. Im Augenblick hat er die visionäre Vorstellung, die Tür, die vom Balkon ins Innere führt, sei geöffnet. Die schmalhüftige, überschlanke Helen sitzt im Schaukelstuhl und er ihr gegenüber. Auch die Tür auf der rückwärtigen Seite des Hauses ist geöffnet. Er kann durch diese offene Gartentür in den Park sehen. Da stehen hohe Ahornbäume um einen Marmorbrunnen, und weiße Steinvasen sind übergossen mit den warmen Farben der Blumen. In Helens Gesicht steht ein feines Lächeln der Güte und des Zugeneigtseins...
Doch schnell erlischt diese Erinnerung. Johanna beantwortet seine Frage.
„Das gnädige Fräulein ist noch in Reval — bei den Verwandten des Herrn Holl.“
Michael nickt schweigend mit dem Kopf. Er möchte fragen, wann sie wiederkommt, aber er bezwingt sich. In seine braunen Augen ist ein sanfter, schwärmerischer Ausdruck getreten. Er ist kaum über dreißig, hochgewachsen, hat ausgeglichene Bewegungen und einen schmalen Kopf mit ausgeprägtem Kinn. Sein Auftreten ist durch Selbstsicherheit und Beherrschtheit ausgezeichnet, die sein Beruf, weite Reisen und ein klarer Charakter ausgebildet haben.
Sie durschschreiten den Garten. Johanna schließt die Tür des Hauses auf. Die Diele liegt dunkel und leer. Das Licht des aprikosenfarbenen Himmels schwebt matt über der Galerie, hinter der die Zimmer des Ehepaares liegen.
Der Chauffeur hat den Reisekoffer hereingetragen.
„Stellen Sie ihn hierher, Franz! Einfach in eine Ecke!“ sagt Michael. „Wir wollen keinen Lärm machen! Sie können sich zurückziehen, Johanna. Nehmen Sie Franz mit und bereiten Sie ihm ein Frühstück. Bis ich gebadet und mich umgekleidet habe, werden Herr und Frau Holl wohl erwacht sein.“
„Sicherlich“, erwidert Johanna und geht mit einem devoten Lächeln hinaus. Der Chauffeur folgt ihr.
Michael ist allein. Er dreht das elektrische Licht an, dreht es wieder aus. Daß Helen nicht in Berlin ist, hat ihm die Stimmung verdorben.
Warum wieder in Reval? denkt er. Man schickt ein junges Mädchen nicht immer in der weiten Welt umher. — Hat Frau Holl das angeordnet? Oder der Gatte? Jedenfalls ist es unverständlich!
Er geht ohne weiteres in das Badezimmer. Bald rauscht das heiße Wasser auf die hellen Kacheln des kleinen Bassins.
Michael badet mit Genuß. Erst während der Dusche fällt ihm ein, daß er weder Pyjama noch einen Morgenanzug zur Verfügung hat. Er muß sich also selbst den Koffer holen.
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