Der Regierungsrat sah den Kriminalrat fragend an.
„Michael ist der Legationssekretär, Verlobter der Tochter“, sagte dieser.
Der Regierungsrat schüttelte den Kopf.
„Nein, gnädige Frau, ich kann auch nicht gestatten, daß jetzt Ihr zukünftiger Schwiegersohn geholt wird. Sie stehen unter dem frischen Eindruck der Ereignisse. Ich muß Sie bitten, uns jetzt Rede zu stehen. Sie selbst haben doch das größte Interesse daran, daß wir so rasch als möglich Licht in diese dunkle Geschichte bringen!“
„Ja“, erwidert Frau Gerda und zieht den blauen Morgenmantel, den die Zofe ihr gebracht hat, fester über der Brust zusammen. „Es ist kalt hier, ich friere.“
Der Kriminalrat befiehlt, daß der Ofen im Keller angeheizt wird.
„Ich will Herrn von Riedner hier haben“, beharrt Frau Gerda.
Aber wie der Regierungsrat nun ihrem Wunsche doch nachkommen will, ruft sie lebhaft:
„Nein! Er soll nicht zugegen sein, wenn ich aussage. Ich will es nicht!“
Der Regierungsrat macht eine zustimmende Handbewegung.
„Erzählen Sie also, gnädige Frau. Wie war das gestern abend, nachdem Sie gespeist hatten ...“
„Ich habe mich mit meinem Gatten gestern etwa um 11 Uhr abends zurückgezogen ...“
„Verzeihung“, unterbrach sie Regierungsrat Dr. Hofer, der die Mordkommission führte, während sich Kriminalrat Dr. Trettner vorläufig noch Notizen machte, „verzeihen Sie, gnädige Frau. Wo haben Sie den Abend verbracht? In den unteren Räumen oder im ersten Stock?“
„Im Eßzimmer, hier im ersten Stockwerk. In diesem Flügel liegen: das Atelier meines Mannes, unsere Schlafräume, neben dem meinen noch das Schlafzimmer meiner eben abwesenden Tochter, ihr Arbeitszimmer, ein Fremdenzimmer. In dem anderen Flügel sind das Musikzimmer und das Eßzimmer!“
„Ich danke. Das Verhältnis zwischen Ihnen, Ihrem Gatten und Ihrer Tochter ist stets ein gutes gewesen?“
„Durchaus. Wir lieben Helen, und sie ist die beste und treueste Tochter der Welt.“
„Also, Sie befanden sich im anderen Flügel im Eßzimmer. Bis 11 Uhr abends?“
„Ja. Dann gingen wir in unsere Schlafräume.“
„Die Dienerschaft war bereits fortgegangen?“
„Nein. Erst als wir zu Bett gingen, verließen die Köchin und das Zimmermädchen das Haus.“
„Ist es Ihre Gewohnheit, zu so später Abendstunde noch Ihrem Personal die Erlaubnis zu geben, auszugehen?“
„Die Mädchen wollten noch tanzen. Sie wissen, Herr Regierungsrat, unsere Zeit hat darüber ihre eigenen Ansichten. Ich kann die Mädchen nicht zurückhalten.“
„Sie hatten keinen Gast?“
„Niemanden.“
„Und zwischen Ihrem Gatten und Ihnen hat keine Auseinandersetzung stattgefunden?“
Frau Gerda zögert. Sie schüttelt den Kopf, aber wie sie den durchdringenden Blick des Regierungsrates fühlt, antwortet sie verwirrt: „Doch ja! Eine unbedeutende Meinungsverschiedenheit!“
„Darf ich wissen, wodurch diese Meinungsverschiedenheit entstanden ist?“
„Muß ich es sagen?“
„Unbedingt!“
„Mein Gatte weigerte sich, in die Scheidung unserer Ehe zu willigen!“
„Oh! Das ist wichtig! Sie wollten sich scheiden lassen?“
„Ja.“
„Und Ihr Gatte? Traf ihn irgendein Verschulden? Oder ...“
Frau Gerda schaut zu Boden. Sie denkt nach. Kriminalrat Dr. Trettner hat zu schreiben aufgehört. Er betrachtet Frau Holl mit zusammengekniffenen Augen.
„Mein Gatte ist mir nicht treu gewesen ...“
„Sie haben Beweise?“
„Nicht gerade Beweise. Eine Frau fühlt das.“
„Ihr Gatte verhielt sich Ihren Plänen gegenüber ablehnend?“
„Ja.“
„War die Auseinandersetzung erregt?“
„Mein Gatte wurde immer sehr leicht erregt.“
„Und befand sich in Ihrer Gesellschaft Ihre Frau Mutter?“
„Gewiß. Meine Mutter war zugegen.“
„Haben Sie irgend etwas Auffälliges an ihr bemerkt? Wie nahm sie den Wortwechsel zwischen Ihnen und Ihrem Gatten hin?“
„Ich glaube, ziemlich gleichmütig.“
„Demnach war Ihre Ehe sehr unglücklich?“
„Wer sagt das?“
„Wenn Ihre Frau Mutter der Szene gegenüber gleichmütig geblieben ist, so war dies nicht die erste Auseinandersetzung, der sie beigewohnt hat!“
Frau Gerda schweigt.
„Bitte, wollen Sie uns weiter erzählen, was dann geschah, als Sie sich zurückgezogen hatten? Ging Ihr Gatte gleichzeitig mit Ihnen in sein Schlafzimmer?“
„Ich hörte ihn noch umhergehen. Eben wollte ich mich schlafen legen, als ich in dem Zimmer meines Gatten ein ungewöhnliches Geräusch hörte. Ehe ich aber zur Besinnung kam, mir vorstellen konnte, was das zu bedeuten hatte, hörte ich laute Stimmen und dann ein Toben, als kämpften Männer. Gegenstände fielen zu Boden. Ich eilte ans Fenster, um Hilfe herbeizurufen. Da stürzten zwei Männer ins Zimmer und rissen mich mit brutaler Gewalt zurück. Während der eine mich festhielt, steckte mir der andere einen Knebel in den Mund. Ich war nicht mehr imstande zu schreien. Ich konnte nicht einmal um mein Leben bitten. Die Elenden banden mich mit rohen Witzen an das Bett. Schließlich verlor ich das Bewußtsein.“
„Aber in jenem Augenblick, während die Verbrecher Sie überwältigten und festbanden, haben Sie doch ihre Gesichter gesehen?“
„Nein, sie waren vermummt —“
„Aber man bekommt doch irgendeinen Eindruck, auch wenn sich eine Begebenheit noch so schnell abspielt! Gehörten die Männer einer besseren Gesellschaftsklasse an, oder waren es typische Verbrechergestalten?“
„Ich glaube, mich zu erinnern, daß es einfache Menschen waren.“
„Können Sie sie uns näher beschreiben?“
„Ich fürchte, nein, denn ich verlor, wie gesagt, sehr schnell das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, war alles still. Ich konnte nicht rufen, mich nicht bemerkbar machen, mußte viele Stunden in meiner entsetzlichen Lage verharren, bis heute morgen Herr von Riedner, mein zukünftiger Schwiegersohn, kam und mich befreite.“
Auf die Frage des Regierungsrates Dr. Hofer, warum Frau Holl nicht die kurze Spanne Zeit, die ihr geblieben war, ehe die Verbrecher sie vom Fenster zurückgerissen hatten, ausnutzte, um laut zu schreien, antwortete Frau Gerda: „Ich war meiner Stimme nicht mehr mächtig. Ich war wie gelähmt. Mir war zu Mute wie einem Menschen, der Entsetzliches träumt, schreien will und keinen Laut aus der Kehle bringt. Im übrigen waren die Jalousien herabgelassen. Man hätte mich gar nicht gehört.“
„Haben Sie das alles in jenem kritischen Augenblick gedacht, oder erwägen Sie es erst jetzt?“
„Der Gedanke ist mir erst jetzt gekommen. Ich habe in jenen furchtbaren Minuten überhaupt nicht gedacht!“
Dies also war der einfache Tatbestand. Die Verbrecher waren zweifellos durch die offenen Fenster bei dem Maler Holl eingedrungen. Das Gartengelände war an dieser Seite des Hauses stark ansteigend, so daß die Fenster hier etwa nur anderthalb Meter über dem Erdboden lagen. Unter den Fenstern fanden sich zudem von Fußspuren Fragmente im Humus des Gartens. Aber es hatte während der Nacht geregnet, die Spuren waren verwischt, man konnte nicht viel mit diesem Beweismittel anfangen. Zwei angesetzte Polizeihunde liefen ein Stück durch den Park in den Grunewald, machten dann einen großen Bogen und landeten schließlich in der Heerstraße, also auf der entgegengesetzten Seite. Hier versagten sie.
„Die Verbrecher sind von hier ab mutmaßlich in einem Auto geflohen“, sagte Kriminalrat Trettner. Die Beamten hatten, was Michael in seiner grenzenlosen Erregung entgangen war, sofort festgestellt, daß der Geldschrank in dem Zimmer des Erhängten offen stand. Ob und was die Verbrecher geraubt hatten, ließ sich endgültig zunächst nicht feststellen. Frau Gerda war der Meinung, ihr Gatte habe mindestens zehntausend Mark in dem Schrank aufbewahrt.
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