Frau Gerdas Augen sind offen wie die ihrer Mutter. Aber diese Augen bewegen sich. Heischen Hilfe. Sind mit rührender Unbeholfenheit auf Michael gerichtet. Sie spricht mit dem Kopf. Ruft mit Kopfbewegungen um Hilfe! Aus ihrem Mund sickert das Blut. Ein Knebel verschließt ihn. Roh und grausam sind die Stricke zusammengezogen, die ihre nackten Arme und Beine fesseln. Michael will sie zerreißen. Frau Gerda stöhnt auf. Er bittet sie mit bewegten Worten um Verzeihung. Sein Chauffeur stampft die Treppe herauf.
„Ein Messer, Franz! Ein Messer!“
Entsetzt starrt der einfache Mann auf die Szene. Reicht seinem Herrn ein Taschenmesser. Michael entfernt den Knebel, durchschneidet die Stricke. Wie eine weiße Blume sinkt Frau Gerda in sich zusammen und gleitet auf den Boden.
Michael nimmt sie in seine Arme, trägt sie aufs Bett.
„Sieh nach Herrn Holl!“ herrscht er Franz an.
Der Chauffeur durchschreitet einen kleinen Raum, in dem Frau Gerda Toilette zu machen pflegt und geht in das Schlafzimmer des Hausherrn. An der Tür taumelt er zurück, kommt kreidebleich zu Michael.
Flüstert nur: „Schnell!“
Michael, ein neues Unglück ahnend, rennt mit ihm hinüber. Die Fenster sind weit offen. Es ist empfindlich kalt. Der Herbstwind bewegt leicht die Kleidung der Gestalt, die an einem Strick von der Decke hängt. Dicht neben der großen elektrischen Lampe.
„Holl!“ ächzt Michael. „Holl! Lieber Freund!“
Der Chauffeur jagt zurück, holt das Messer, das in Frau Gerdas Zimmer auf dem Teppich liegt, schneidet mit einem Ruck den Strick durch. Michael fängt den leblosen Körper, der massig und schwer herabfällt, in seinen Armen auf. Das Gesicht des Toten ist blau und verzerrt. Als ob noch ein schreckliches, ein teuflisches Gelächter über den Unglücklichen hinweggebraust wäre, ehe er den Geist aufgab.
Er ist tot, es gibt nicht den leisesten Zweifel.
Trotzdem schreien Michael und Franz um einen Arzt. Franz rennt hinunter, Michael geht mit bleischweren Schritten zurück zu Frau Gerda. Sie liegt bewußtlos auf dem Bett. Sie ist fast nackt, und obgleich sie beinahe vierzig Jahre alt ist, ist ihr Körper so weiß und fehlerlos wie der eines jungen Mädchens. Michael geht die Erinnerung an ein Bild Fragonards durch den Kopf, er wird erbittert gegen sich selbst und zieht errötend eine rote Decke über Frau Gerdas Körper. Unten ist Lärm entstanden, Arzt und Polizei sind angekommen.
Nun rattert auch das Auto des Überfallkommandos laut und dröhnend heran. Viele Tritte eilen nach oben.
Dann sind die Zimmer angefüllt mit Beamten in Zivil und Uniform. Michael antwortet auf viele Fragen ohne zu wissen. Er blickt in fremde Gesichter, die hinter einer Wolke halben Bewußtseins auf ihn schauen. Er sieht den Arzt hantieren und denkt an einen bösen Traum. Und dann sieht er eine jähe Bewegung Frau Gerdas, er sieht, wie sie die Augen weit öffnet in grauenvollem Entsetzen, wie sie totenblaß in sich zusammensinkt ... nun haben sie es ihr gesagt, denkt er. Sie weiß jetzt, wie sie ihren Mann drüben in seinem Zimmer gefunden haben .....
Doch dann sagt jemand: „Die Mordkommission“, und geschäftige Männer verwandeln das Schlafzimmer Frau Gerdas in ein Forum von Bewegtheit.
Michael hört Frau Gerda mühsam antworten, während die Zofe ihr eben ein Getränk aus Wein, mit rohem Ei vermischt, zurechtmacht.
„Wo waren Sie?“ schreit Michael das Mädchen an, seiner Sinne nicht mehr mächtig.
„Ich hatte Ausgang“, erwidert sie verschüchtert.
„Und die Köchin?“
„Auch.“
Pack! denkt Michael. Das ist ja erlogen!
„Ich bitte Sie, jetzt nicht mehr zu sprechen“, sagt der Führer der Mordkommission zu Michael. Er hat ein großes Gesicht mit Schmissen und kalten blauen Augen.
„Kommen Sie zu sich! Nehmen Sie etwas zur Stärkung, Sie sehen furchtbar aus!“
„Ja“, erwidert Michael mechanisch.
„Dann halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.“
„Jawohl“, sagt Michael wie vorher, verneigt sich und sieht Frau Gerda mit einem langen, beinahe zärtlichen Blick an. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung“, meint er und geht hinaus. Er nimmt das Bild Frau Gerdas mit: wie sie bleich unter der roten Decke liegt, die von der jugendlichen Brust abgeglitten ist. Sie ist noch schöner als in ruhigen Tagen. Man könnte denken: Die Schwester Helens! Niemand würde auf den Gedanken kommen, diese Frau, an der die Zeit spurlos vorübergegangen ist, könnte eine erwachsene Tochter haben, die Michael liebt.
Johanna ist wie eine Mutter um Michael bemüht. Sie flößt ihm Kognak ein. Er kommt langsam zu sich.
Das Denken fällt ihm schwer.
Sein verstörtes Gesicht birgt er an der Brust der einfachen Frau:
„Sagen Sie, Johanna — ist das wahr? Ist das alles Wirklichkeit? Furchtbare Wirklichkeit?“
„Ja, es ist wahr, Herr“, antwortet sie. Ihm fällt auf, wie sonderbar gefaßt sie ist.
„Warum sind Sie so ruhig, Johanna?“ sagt er zornig und bedauert im gleichen Augenblick, daß er seine Nerven nicht besser in der Gewalt hat.
Sie wendet sich ab, denn eben kommt ein Beamter und holt sie zur Vernehmung.
„Schrecklich“, sagt ein anderer Polizist.
„Schrecklich!“ Er sucht den fassungslosen Michael zu trösten. Michael weint. Michael weint stoßweise wie ein Knabe. Die einfachen Worte, die der Beamte findet, tun Michael wohl. Der Polizist gibt der Hoffnung Ausdruck, daß der Erhängte doch noch gerettet werden kann. Er erzählt seltsame Fälle von kaum glaublichen Wiederbelebungen durch Sauerstoff.
„Sie sind immer noch im Bademantel“, fährt der Beamte fort. „Wo sind Ihre Kleider?“
„Ja“, erwidert Michael, ohne den Sinn der Frage gleich zu begreifen. Er fährt sich verwirrt durch das Haar. „Ach so, mein Anzug? Im Badezimmer — ich wollte mich umziehen — da erschreckte mich die Stille“.
Wieder überfällt ihn ein Weinkrampf.
Der Beamte holt ihm seine Sachen und geht hinaus.
Mit zitternden Händen kleidet sich Michael an. Immer muß er an Frau Gerdas rührende Schönheit denken. Und an die fürchterliche Grimasse des toten Malers Holl. Ich war ihm eigentlich nie sehr zugetan, denkt er. Er war ein sonderbarer Mensch, und zu Helen war er nicht gut. — —
Inzwischen hatte die Mordkommission ihre Arbeit begonnen. Frau Gerda Holl war kaum recht bei Besinnung, als sie nach ihrer Mutter rief. Sie wollte in das Wohnzimmer hinabeilen, denn irgend jemand hatte davon gesprochen, daß Frau Leyden sich noch immer unten befände. Aber der Regierungsrat hinderte sie daran, das Zimmer zu verlassen.
„Ihre Mutter befindet sich nicht wohl ..“
Frau Gerda schrie, man dürfe es ihr nicht verwehren, ihre Mutter zu sehen; da trat der Arzt ein und erklärte ihr, daß er es bei dem Zustand, in dem sie sich befände, nicht erlauben könnte, daß sie sich erneut errege.
„Sie ist tot?“ schrie Frau Gerda.
„Nein, ich gebe Ihnen mein Wort, sie ist am Leben“, erwiderte der Arzt. „Beruhigen Sie sich, Sie werden nachher Gelegenheit haben, sie zu sehen.“
„Aber irgend etwas ist geschehen!“
„Sie lebt, das muß Ihnen im Augenblick genügen. Ich gebe Ihnen keinesfalls die Erlaubnis, sich und die Kranke von neuem aufzuregen.“
„Sie ist also krank?“
„Ja, aber sie befindet sich bereits in ärztlicher Obhut.“
„Seien Sie doch vernünftig, gnädige Frau“, sagte Kriminalrat Trettner. „Es handelt sich doch nicht nur um Sie, sondern auch um die Gesundheit Ihrer Frau Mutter. Wollen Sie denn durch eine Szene die unglückliche alte Dame in neue seelische Verwicklungen stürzen?“
Frau Gerda sank auf ihr Bett zurück.
Der Regierungsrat bat sie um Auskünfte.
„Ich bin zu schwach, um jetzt zu sprechen“, erwiderte Frau Gerda. „Ich will, daß man Michael holt.“
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