Vorsichtig öffnet er die Tür und horcht hinaus. Es ist totenstill. Er schlüpft in den Bademantel des Hausherrn, der ihm zu klein ist, zieht sich die Saffianschuhe an und geht hinaus, um den Koffer ins Badezimmer zu schleppen.
Aber an der Tür bleibt er stehen und horcht.
Was ist eigentlich hier los?
Es ist nichts zu hören! Aber es ist eine so beklemmende Stille im Hause, daß Michael plötzlich erschrickt.
Das Blut schießt ihm ins Gesicht.
Diese Stille schreit ja mit hundert Stimmen! Oder rauscht das Blut in seinen Ohren?
Zum Kuckuck, denkt Michael, bin ich denn so nervös?
Er sieht auf die Armbanduhr.
Es ist sieben.
Nichts regt sich.
Aber Frau Leyden! geht es ihm durch den Kopf. Frau Gerdas Mutter! Die alte Dame klingelt doch täglich um sechs Uhr um ihr Frühstück! Es ist ihr oft belächelter Ehrgeiz, es dem Gatten ihrer Tochter im Frühaufstehen gleichzutun.
Und kein Mädchen hantiert im Haus!
Das ist doch zum Verrücktwerden! Wie in Dornröschens Schloß! Mit raschen Schritten geht Michael nach dem Wohnzimmer, öffnet die Tür.
Die Fenster liegen nach rückwärts, dem Park zu. Die Stores sind geschlossen. In der mattgelben Dämmerung versinken die Umrisse der Gegenstände.
Vogelgezwitscher dringt in Michaels Bewußtsein, und er sieht, daß auf dem Teppich ein Stock liegt, der Stock, auf den Frau Leyden sich zu stützen pflegt.
Dann bleibt er wie versteinert stehen, keines Wortes, keines Atemzuges fähig.
Da sitzt doch Frau Leyden!
In der Tat, da sitzt die alte Dame, schaut ihn an und redet kein Wort!
„Großmama!“ sagt Michael. Er hat sich als Helens Verlobter an diese vertraute Anrede gewöhnt. Er selbst hat früh die Mutter und die Großeltern verloren, er liebt dieses Haus und die Frauen, die ihm Leben und Seele geben.
„Großmama!“ wiederholt er. Seine Stimme klingt schmerzhaft laut. Eine dunkle Angst schnürt ihm die Kehle zu. „Warum reden Sie nicht, um Gottes willen?“
Ist sie tot?
Michael erinnert sich einer Begebenheit aus seiner Knabenzeit: Er hat in Berlin die Schule besucht, und einmal nahm ihn sein Vater mit in ein Panoptikum der Friedrichstraße. Er wird nie das Grauen vergessen, das er beim Anblick dieser Wachsfiguren empfand. Das gleiche Grauen überfällt ihn jetzt.
Er tritt schnell näher.
Aber sie ist nicht tot! Dem Himmel sei Dank, sie lebt, seine Furcht ist nichts weiter als die Folge überreizter Nerven.
Das Rauchen, denkt Michael. Warum rauche ich so viel?
„Nun, Großmama! Sagen Sie doch etwas!“
Die alte Frau mit dem gescheitelten weißen Haar sitzt in einem schwarzen Seidenkleid in einem farbigen Moquette-Sessel. Das Kleid trägt sie offenbar noch vom vergangenen Abend her, hat es gar nicht abgelegt. Aber ist das nicht seltsam? Die Totenblässe ihres Gesichts fällt Michael jetzt auf. Ihr versteinertes Wesen ist unheimlich.
Grauen stürzt Michael an.
Die Augen, denkt er ... Das sind ihre Augen — und diese Augen leben! Ja! Kein Zweifel! Aber die Pupillen sind wie Kiesel! Ganz starr, bewegen sich nicht! Nichts an ihrem Körper bewegt sich. Nur der Atem geht leise über ihre schmalen Lippen.
„Großmama!“ schreit Michael, reißt die Stores zur Seite, stößt das Fenster auf, und begreift jetzt erst ihren hilflosen Zustand. „Großmama! Was ist hier geschehen? Und was ist mit Ihnen?“
Sie gibt keine Antwort, sie kann keine Antwort geben. Sie schaut mit geisterhaften Augen an ihm vorbei ... geradeaus ... ins Leere.
In eine rätselhafte Stunde sieht sie hinein, das fühlt Michael. Ihre Augen sind erstarrt und doch voll Leben, in ihren Augen schreit etwas, jammert etwas, weint etwas ...
Ich kann ihre Augen nicht ansehen, denkt Michael. Hier ist etwas Furchtbares vorgefallen! Oder ist es nur der Schlaganfall? Eine Lähmung liegt vor, das ist ganz klar!
Michael stürzt zur Klingel. Wild schrillt der Lärm durch das Haus. Warum erst jetzt? fährt es ihm durch den Kopf. Ich hätte längst klingeln müssen!
Der Lärm tut wohl. Michael schreit, ruft.
Noch mehr Lärm! Lärm ist Leben! Hier kauert der Tod!
Diese unglückliche Frau ist gelähmt! Gelähmt! Vom Schlage gerührt!
Sie sitzt also schon die ganze Nacht hier! Seit dem gestrigen Abend sitzt sie hier in dem Sessel, bei vollem Bewußtsein, denn ihre Augen sind ganz klar! Sie kann sich nicht rühren und nicht regen! Und niemand ahnt hier, daß der Tod ihr gegenübersaß, eine ganze lange Nacht, und sie gezeichnet hat! —
Es ist wieder totenstill im Hause.
Niemand regt sich.
Nichts!
Kein Dienstbote! Kein Mädchen! Gärtner und Chauffeur schlafen wie Johanna im Wirtschaftsgebäude. Aber die Mädchen wohnen doch im Haus! Die Zofe, die Köchin! Sind die denn taub?
Michael rennt zum Fenster und brüllt hinaus.
Schlafen die schon wieder? Nichts regt sich draußen!
Die Tür ins Wirtschaftsgebäude geht nicht auf.
Michael rast die Treppe hinab, immer mehrere Stufen überspringend. Hinüber ins Wirtschaftsgebäude.
Reißt die Tür auf.
Johanna kommt die Stiege herab. Sein eigener Chauffeur steht an der offenen Tür des Wohnzimmers und blickt ihm entgegen, ungewiß, woher die Rufe gekommen sind.
An der Wand des Wohnzimmers, in das man durch einen kaum meterlangen Vorraum tritt, hängt eine alte Schwarzwälderuhr. Sie steht. Die Zeiger weisen auf zwölf.
Michael starrt diese Uhr an, als ob von ihr die Lösung eines fürchterlichen Rätsels kommen könnte. Nichts haftete von diesem Augenblick in seiner Erinnerung als diese Uhr, die doch mit den Dingen, die um ihn vorgehen, nichts, rein nichts zu tun hat.
Aber wie oft ist unser Gedächtnis, diese unzuverlässige Wachsplatte, die die Eindrücke unserer Sinne aufzunehmen bestimmt ist, wie oft ist sie bereit, Nebenumstände, belanglose Erscheinungen festzuhalten, während das Wichtigste scheinbar im Nichts versinkt?
„Was ist los, Herr Legationssekretär?“ ruft Johanna, noch auf den Stufen über ihm.
„Kommen Sie! Schnell!“ stammelt Michael. „Ein Unglück!“ Er winkt mit beiden Armen. Rennt wieder in die Villa, fliegt die Treppe zum ersten Stock empor, immer rufend:
„Holl! Frau Gerda! Warum gebt ihr kein Lebenszeichen?“
Niemand antwortet. Michael weiß, daß etwas Entsetzliches geschehen ist. Warum er es weiß? Er fühlt es. Eisig rieseln Schweißperlen über seinen Nacken.
Unten füllt sich die Diele: Johanna, der Chauffeur des Hauses, Michaels Chauffeur — alle eilen ins Wohnzimmer, sind um die Gelähmte bemüht.
Michaels Wagenführer telephoniert nach einem Arzt.
„Polizei! Polizei!“ schreit Michael von oben herunter. Franz nickt und setzt sich mit dem Alexanderplatz in Verbindung.
Die Tür in Frau Gerdas Schlafzimmer ist nicht verschlossen. Michael zaudert. Eine Sekunde nur. In diesem Augenblick des Schreckens und der Angst ist er ein großer armer Junge. Er denkt nicht sofort an Holl, den Freund seines Vaters. Er denkt an Frau Gerda. Die Frau, das Mütterliche, rufen ihn zuerst.
Er tritt ein. Frau Gerdas Bett ist unberührt. Ein Blick genügt Michael. Die Jalousien sind herabgelassen. Es herrscht Dämmerung. Er muß die Augen erst an die undurchsichtige Atmosphäre gewöhnen. Wie Schleier wallen die Schatten vor ihm.
Dann sieht er Umrisse. Etwas bewegt sich.
Frau Gerda. Sie trägt ein helles Nachtkleid. Blut hat die Spitzen am Halse rot durchtränkt. Aber sie bewegt sich. Sie ist nicht tot. Michael kniet nieder, tief aufatmend, umfaßt sie, umklammert sie.
„Frau Gerda! Frau Gerda!“ stammelt er. „Mama!“ flüstert er. Sie ist doch Helens Mutter! Und bemerkt jetzt erst: Sie ist an das Bett festgebunden. An eine Säule des großen italienischen Bettes. Über ihrer zusammengekauerten Gestalt steht auf der Holzsäule ein geschnitzter Engel, der mit drei andern Engeln den Betthimmel trägt.
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