„Herr Legationssekretär,“ sagt der Regierungsrat scharf, „ich bitte Sie, sich in einem der anstoßenden Zimmer zu unserer Verfügung zu halten. Ich habe schon einmal dieses Ersuchen an Sie gestellt. Wir werden Sie noch vernehmen, und schon deshalb dulde ich nicht, daß Sie länger bei Frau Holl verweilen!“
„Wahrscheinlich, weil ich auch verdächtig bin,“ lacht Michael zornig auf.
Trettner dreht ihm sein Gesicht zu:
„Verdächtig? Niemand ist hier zunächst verdächtig. Aber die Tatsache, daß Sie, Herr Legationssekretär, der letzte in dieser Nacht und der erste heute morgen — was dasselbe ist — in diesem Hause gewesen sind, werden Sie zugeben?“
Michael schaut den Kriminalrat mit hochgezogenen Brauen an. Wortlos verläßt er den Raum. An der Tür, schon im anderen Zimmer, wendet er sich um und zwingt den Polizisten, der den Regierungsrat und den Kriminalrat begleitet und die Tür hinter ihm schließen will, zurückzutreten: „Keine Sorge, Mama! Ich lasse Sie nicht aus den Augen! Es gibt noch höhere Instanzen als eine Mordkommission.“ Die Tür schließt sich hinter ihm. Er geht ins Eßzimmer und wird Zeuge einer Vernehmung, die ein Kriminalkommissar Weiß mit dem Personal anstellt.
Er hört eben:
„Und wer hat Ihnen und der Köchin für diese Nacht Erlaubnis zum Ausgang erteilt?“
„Frau Holl“, erwidert heulend die Zofe.
„Das ist aber ein ganz ungewöhnlicher Vorgang! Oder haben Sie öfter schon Erlaubnis bekommen, die ganze Nacht außer dem Hause zu verbringen?“
„Oh ja“, sagt die Köchin, eine breitspurige Ostpreußin mit rotem Gesicht. „Was ist denn dabei? Wir wollen uns auch mal Berlin ansehen! Oder glauben Sie, das Vergnügen ist nur für die reichen Leute da?“
„Darnach hat Sie niemand gefragt“, erwidert der Kommissar. „Haben Sie selbst für diese Nacht um Urlaub nachgesucht — oder wurde er Ihnen angeboten?“
Die beiden Mädchen sehen sich an.
„Frau Holl,“ beginnt die Köchin zögernd, „Frau Holl hat gesagt, wenn wir wieder mal fortwollten, heute Nacht hätte sie nichts dagegen — das hat Frau Holl gesagt!“
„Und sonst — wenn Sie sonst ausgingen — wurde Ihnen da auch von Frau Holl ein solcher Vorschlag gemacht — oder haben Sie sonst immer selbst um Urlaub nachgesucht?“
„Ja, sonst haben wir das wohl so gehalten!“
„Achten Sie auf Ihre Aussage: Sie ist von großer Wichtigkeit! Bitte: Erinnern Sie sich an einen einzigen Fall, wo Frau Holl Ihnen einen nächtlichen Urlaub angeboten hat — außer gestern?“
„Nee“, erwidert statt der Köchin die Zofe, eine richtige Berliner Pflanze, mit einer kecken Stupsnase und einem phantastischen Wuschelkopf. „Nee! Sonst hat sie immer geschimpft, wenn wir nachts fortwollten...“
Der Kommissar nickt befriedigt und diktiert einer Stenotypistin, die teilnahmslos und verschlafen stenographiert, die Aussagen.
Was heißt das alles? denkt Michael. Plötzlich wird ihm erschreckend klar, daß die ganze Voruntersuchung immer mehr gegen Frau Gerda geführt wird. Ein heißer Haß gegen die Polizei quillt in ihm auf.
Aber er schweigt. Er nimmt sich vor, aufmerksamer Zuhörer zu sein, um im entscheidenden Moment einzugreifen.
Plötzlich fällt ihm Helen ein.
Helen!
Er will hinaus, um ein Telegramm an sie aufzugeben.
Arme Helen! denkt er. Arme, arme Helen! Zum Glück ist wenigstens deine Mutter am Leben geblieben! Was wirst du zu diesem traurigen Ende deines Vaters sagen? Er sieht sie in Gedanken vor sich: Im dunklen Reisekleid, die maßlos erschreckten Augen auf eine Zeitung geheftet — —
„Verzeihung“, sagt der Polizist, der die Tür besetzt hält. „Ich kann Sie nicht hinauslassen!“
„Herr Kommissar!“ ruft Michael. „Bin ich hier gefangen?“
„Keineswegs, mein Herr! Aber wir können nicht dulden, daß Sie sich entfernen, ehe Ihre Vernehmung stattgefunden hat.“
„Ich habe aber ein wichtiges Telegramm aufzugeben!“
„Wir werden es besorgen. An wen wollen Sie depeschieren?“
„An Helen Holl“, erwidert Michael widerwillig.
„Wer ist das?“
„Die Tochter des Hauses — und meine Braut!“
Der Beamte sieht ihn forschend an, wie Michael meint, nicht ohne Mitgefühl.
„Bitte schreiben Sie, wenn Sie wollen, bedienen Sie sich in meiner Gegenwart des Telephons! Die Post nimmt auch telephonische Aufträge für Telegramme entgegen.“
Michael depeschiert also an Helen:
„Abreise sofort! Säume keine Stunde. Ich erwarte dich! Michael.“
„Die Dame wird inzwischen aus den Zeitungen alles erfahren“, bemerkt Kommissar Weiß.
Michael schweigt. Er setzt sich und stützt den Kopf in die Hände. Es ist zu viel, was auf ihn einstürmt. Er stellt sich die zarte Helen vor, wie die Schreckensnachrichten über sie hinwegfluten — und er, Michael, kann sie nicht trösten, kann ihr nicht helfen!
„Ich werde ihr entgegenfahren“, sagt er, plötzlich aufspringend. „Ich verlange meine sofortige Vernehmung.“
Aber dann fällt ihm wieder die Gelähmte ein. Ehe er zu Frau Holl ins Schlafzimmer zurückkehrte, war er bei der unglücklichen Mutter Frau Gerdas gewesen.
Er hatte sie zwischen Beamten und Ärzten zurückgelassen. Nie im Leben wird er die todestraurigen Augen vergessen, mit denen sie ihm nachsah.
Aber alle Versuche, sie zum Sprechen zu bringen, waren erfolglos. Nicht einmal den Augapfel konnte sie bewegen. Richtete man Fragen an sie, dann veränderten ihre Augen die Farbe, den Glanz, den Ausdruck, — aber wer war imstande, diese Sprache zu verstehen?
Der Kommissar gab Michael die Erlaubnis, sich in Begleitung eines Polizisten wieder ins Erdgeschoß zu begeben. Aber er fand die Großmutter dort nicht vor. Polizisten und herbeigerufene Sanitätsbeamte hatten sie in das erste Stockwerk getragen, wo sich ihr Zimmer am Ende der Galerie befand.
Als Michael dort eintrat, fand er den Polizeiarzt, ferner Dr. Marholm, den Hausarzt der Familie, und einen Sanitätsbeamten vor.
„Frau Leyden will sich unter keinen Umständen aus dem Hause transportieren lassen“, sagt der Hausarzt zu dem eintretenden Michael.
„Aber sie kann ja gar nicht sprechen“, erwidert dieser und eilt zu der Gelähmten.
„Der Ausdruck ihrer Augen sagt mir alles“, meint Dr. Marholm. „Es liegt ein Bluterguß im Gehirn vor. Wir müssen darauf bestehen, daß Frau Leyden in ärztliche Behandlung in ein Sanatorium kommt. Vollkommene Lähmung, wie ich sie in dieser Form noch gar nicht beobachten konnte! Haben Sie übrigens eine Ahnung, Herr Michael, was die alte Dame gestern abend noch im Erdgeschoß zu suchen hatte?“
Michael fühlt die Augen des Polizeiarztes auf sich gerichtet. Er ist überreizt und nervös durch so viel kriminellen Spürsinn.
„Mein Gott“, sagt er, „sie wird etwas in der Küche gesucht haben! Das Personal war doch ausgegangen!“
„Aber es muß eine furchtbare Aufregung vorhergegangen sein! — Oder sie ist von einem schrecklichen Ereignis überrascht worden!“ sagt der Polizeiarzt.
Michael zuckt die Achseln. Ihm kam das alles gar nicht wahrscheinlich vor. Er fand, daß alle diese Leute die einfachsten Begebenheiten rein kriminell beurteilten und dadurch zu Fehlschlüssen gelangen mußten.
Der Anblick Frau Leydens war grauenerregend. Diese kluge Frau, immer voll Interesse für die Ereignisse des Tages, künstlerisch veranlagt, eine ausgezeichnete Kennerin der zeitgenössischen Literatur, saß vor Michael und den fremden Leuten, den Ärzten und den Beamten, unfähig, ein Glied zu rühren oder eine Auskunft zu erteilen, und sah nur, schaute nur! Lebte und war tot! Ein lebender Leichnam, ein atmender Mensch — und doch nur ein Phantom!
Was wußte sie?
War dieser schreckliche Schlaganfall wirklich ein Zufall gewesen? Oder hing er mit den geheimnisvollen Vorgängen dieser Nacht zusammen?
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