Yasmina Khadra - Der Schreiber von Koléa

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Als hoher Offizier der algerischen Armee veröffentlichte Mohammed Moulessehoul seine ersten Romane wegen der strengen Zensurbestimmungen unter weiblichem Pseudonym: Hommage an die Courage der algerischen Frauen in finsterer Zeit. Erst nachdem er im Jahr 2000 mit seiner Familie nach Frankreich geht, kann er das Geheimnis um seine Identität lüften. Yasmina Khadra zählt heute zu den wichtigsten literarischen Stimmen der arabischen Welt und ist einer der erfolgreichsten Autoren Europas.Der Schreiber von Koléa ist sein persönlichstes Buch, sein bestes, sagen viele. In ausdrucksstarker, bildhafter Prosa, mit Tempo und analytischer Schärfe schlägt er sich mit seiner Feder einen Weg durch den algerischen Dschungel und erzählt von einer Jugend in Nordafrika. Der junge Mohammed will Schriftsteller werden. Sein Vater zwingt ihn zu einer Karriere beim Militär. Mohammed flüchtet in die Welt der Literatur. Heimlich beginnt er zu schreiben. Eine folgenschwere Entscheidung, denn die Bürgerkriegsarmee duldet keine Schriftsteller! – Diese leidenschaftliche Stimme geht zu Herzen.Übersetzung: Regina Keil-Sagawe-

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Yasmina Khadra

Der Schreiber von Koléa

Roman meines Lebens

Aus dem Französischen

von

Regina Keil-Sagawe

Saga

Dieses Buch widme ich den Kadetten zum Zeichen meiner Freundschaft und Verbundenheit

Meine Irrtümer bedaure ich nicht,

meine Freuden sind nicht mein Verdienst.

Die Geschichte ist so alt wie meine Erinnerung,

die Ewigkeit so trügerisch wie mein Schlaf.

Sid Ali

Wovon die Wölfe träumen

Während der Nacht hatte es geregnet, und die ersten tastenden Sonnenstrahlen brachten die Obstgärten zum Dampfen. Es war ein Morgen wie bisher jeder Morgen, so ursprünglich wie eine Ackerfurche. Dunstflocken schwebten den Berghang empor, gleich einem Gespenstergeschwader, das vor dem heraufziehenden Tag die Flucht ergreift. Die Welt erwachte, begleitet von Vogelgezwitscher und dem Geraschel welken Laubs, das sich unter den Bäumen zusammenrottete, als weigere es sich, von einer Windböe erfasst, vom heimischen Boden vertrieben zu werden. Hier und da entwichen Rauchschärpen aus den Schornsteinen ländlicher Hütten, und mir war, als winkten sie uns zum Abschied hinterher. Mein Blick ging zum Himmel empor, der seinen Sternen entsagte, glitt über die Feldwege dahin, die ihre Spurrillen spülten, wanderte weiter bis ans Ende der Welt, wo der Berg vor solcher Tristesse sein Haupt verhüllte; ich sah die Kondenswassertropfen über die beschlagenen Scheiben rinnen, und wie sie mein Spiegelbild mit wulstigen Flecken überzogen. So sehr mein Blick sich auch an den Zypressen festhielt, den Hügelkuppen, Flüssen, Brücken und Palisadenzäunen, er konnte sie doch nicht daran hindern, immer ferner zu rücken. Das Einzige, was meine Augen eben noch zurückhalten konnten, waren meine Tränen.

Wir hatten Oran schon vor mehr als einer Stunde verlassen, und bisher nicht die leiseste Regung auf den Lippen meines Vaters. Wortlos, mit steifem Nacken und mechanischen Bewegungen, steuerte er den röhrenden Peugeot an diesem Herbstmorgen des Jahres 1964 über die holprigen Straßen Tlemcens. Es war genau die Art zu schweigen, die mein Vater immer hatte, wenn er unglücklich war. Sein Gesicht verdunkelte sich wie ein Wassertrog, über den eine Wolke hinwegzog. Wenn er sich derart verkapselte, versank sein Kosmos im Zwielicht – man wusste nicht mehr, woran man mit ihm war.

Normalerweise fiel ihm noch jedes Mal eine Grimasse ein, die mich laut losprusten ließ, denn mein Lachen hallte in ihm wider wie der Singsang eines Wasserfalls, frischte seine Stimmung auf und peitschte sein ganzes Ego mit purem, belebendem Nass.

Ich war sein ganzer Stolz. Er hatte mich unheimlich lieb, ich glaube, mehr als alles auf der Welt.

Wir waren uns sehr nah. Kaum brach er zur Arbeit auf, fehlte er mir schon; und wenn er zurückkam, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich auf mich zu stürzen und mich zu puffen und zu knuffen, derart überglücklich, dass ich begriff, wie sehr er sich nach mir sehnen musste, sobald ich ihm auch nur den Rücken zukehrte …

Ich hatte ihn so lieb wie er mich. Zu ihm aufzublicken war ein himmlisches Gefühl. Zwar humpelte er und ging auf einen Stock gestützt, denn im Krieg hatte ihn eine Kugel am Knie verletzt, doch in meinen Augen paradierte er. Von allen Männern erschien er mir als der stattlichste. Derart mächtig kam er mir vor, dass ich ihn oft für den lieben Gott hielt …

Warum schaffte er mich jetzt fort – so weit weg von seinem Glück?

Immer, wenn sein Blick mich berührte, verkrampfte er sich noch mehr. Ich ahnte, er war kurz davor, auf der Stelle umzudrehen und uns nach Hause zurückzubringen. Seine Hände hielten das Lenkrad auf eine Art umklammert, die verriet, welch eine Schlacht in seinem Inneren tobte und wie sehr ihn der Zweifel bedrängte – fast so, als ginge es um eine Gewissensfrage. Dabei hätte er allen Grund gehabt, zufrieden zu sein: Er brachte mich in die Kadettenanstalt, eine renommierte Schule, an der es die denkbar beste Ausbildung gab; einen künftigen Offizier würde man dort aus mir machen, einen großen Truppenführer und am Ende gar einen Helden und Kriegsherrn, wer weiß …

Kader, mein kleiner Cousin hinten auf dem Rücksitz, war längst eingeschlafen, ermattet von den endlosen Serpentinen, die sich zwischen rebenbewachsenen Hügelkuppen wanden. In der Ferne kauerten zwei Hirten um ein Lagerfeuer und wärmten ihre Hände an der Glut. Weiter unten, genau da, wo die Ebene begann, flüchtete ein Pferd in wildem Galopp vor drei ausgehungerten Hunden davon, deren Gekläff am Hang abprallte, bevor es vom Motorengedröhn unseres Peugeot verschluckt wurde. Und ich, ich fühlte mich gerade so, als schrumpfte ich förmlich zusammen in dem funkelnagelneuen Anzug, der am Abend zuvor in einer Luxusboutique in der Rue d’Arzew erstanden worden war … Ich war gerade mal neun Jahre alt und besaß genug Intuition, um zu ahnen, dass die Zukunft sich in allem, aber wirklich allem, von meinem bisherigen Leben unterscheiden würde.

Wie ein Irrlicht glomm der Weiler Bensekrane in meiner Verzweiflung auf. Kaum hatte ich Zeit, die Bauern wahrzunehmen, die am Tisch vor einer Budike saßen, da ging es schon weiter mit furunkulösen Hügeln, depressiven Bäumen, sich verrenkenden Kurven, die den Autoreifen ein seltsames Geröchel entlockten. Vor mir das Radio hüllte sich in unheilvolles Schweigen. Noch gestern hatte es orientalische Lieder ausgespien, während mein Vater mit mir kreuz und quer durch die Geschäftsstraßen Choupots gefahren war. Für gewöhnlich stellte er immer gleich das Radio an und startete erst dann den Motor. Er war geradezu auf die Nachrichten abonniert, ganz versessen auf Boubagra und seine Sketche und völlig hingerissen, wenn er beim Drehen auf Dalida mit ihrem Song Ya Mustapha stieß. Mein Vater war ein Mann, der alles Lärmende und Theatralische liebte; einer, der sich noch in der Leichenkammer prustend auf die Schenkel klopfen konnte. Der Krieg hatte ihm die Augen für die Endlichkeit der eigenen Existenz geöffnet, und vor allem sein Bewusstsein dafür geschärft, welch ein ungeheures Glück er doch hatte. Er war noch einmal davongekommen, im Großen und Ganzen mit heiler Haut, und fest entschlossen, das Leben mit der unbändigen Gier des wundersam Erretteten zu genießen.

An jenem Tag aber hatte er Gas gegeben, ohne auch nur einen Blick an das Radio zu verschwenden.

In Gedanken war er weit weg.

Einen Augenblick lang hatte seine Hand sich vom Schaltknüppel gelöst und auf mein Knie zu bewegt. Zweimal hatte sie Anlauf genommen, bevor sie einen Klaps auf meinen Oberschenkel riskierte, einen kaum merklichen Klaps, verwirrt, nicht länger dort verharren zu können, wo sie mich doch eigentlich hätte aufmuntern sollen.

»Du bist furchtbar verwöhnt«, hielt meine Mutter mir stets vor. »Wenn du hier bleibst, wird nie was Gescheites aus dir. Du weißt ja noch nicht einmal, wo deine Schule steht, du bist immer so geistesabwesend, ständig mit dem Kopf in den Wolken. Und dann rauchst du auch noch heimlich. Versuch gar nicht erst, es abzuleugnen, ich habe eine Zigarette in deinem Schulranzen gefunden. Du kannst von Glück sagen, dass ich deinem Vater nichts verraten habe. Er hätte dir glatt das Fell über die Ohren gezogen.«

Er hätte mir allenfalls die Ohren lang gezogen. Mehr nicht.

Ein einziges Mal nur hat er mich geohrfeigt. In Casablanca war das. Ich war auf einen Steilfelsen geklettert, um den Ozean zu betrachten. Ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Er hatte mich überall gesucht, das ganze Viertel alarmiert. Als ich abends zurückkam, traf ich ihn vor dem Haus an, leichenblass war er und halbverrückt vor Sorge. Seine Hand kam schneller als seine Erleichterung. Aber geweint habe ich nicht. Gleich danach nahm er mich in die Arme und schluchzte mir ins Haar.

Nie wieder sollte er fortan die Hand gegen mich erheben.

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