Die wenigen Korporäle, die hin und wieder für die Ausbilder einsprangen, waren ohne erkennbare Gefühlsregung bei der Sache. Sie ließen sich weder anrühren noch bestechen; sie umzustimmen, war aussichtslos. Beim geringsten Verstoß schnappten sie uns beim Genick, um unsere Matrikelnummer zu sehen, die in Rot unserem Jackettkragen aufgenäht war. Da sie weder lesen noch schreiben konnten, begnügten sie sich damit, die Zahlen abzumalen, und zeigten uns unverzüglich bei der Schulleitung an. Wir verübelten es ihnen nicht. Sie waren nervig, aber korrekt.
Einen jedoch gab es, der seine Vorrechte missbrauchte: Sergent Ferrah. Das Barett nach Zuhälterart schräg über der Stirn und im Mund nichts als Unflat, war er von furchterregendem Sadismus. Manche Kadetten machten aus Angst vor ihm sogar in die Hose. Er war ein verbitterter, widerwärtiger Mensch. Er konnte niemanden ausstehen, am wenigsten aber die Offiziere. Als er erfuhr, dass ich der Sohn eines Offiziers mit höherem Dienstgrad war, legte er mit Freuden los. Wochenlang weckte er mich um drei Uhr morgens und zwang mich, die Stiefel meiner Stubenkameraden bei völliger Dunkelheit zu wichsen; und wehe mir, wenn sich auf dem Leder auch nur das kleinste Staubkörnchen zeigte. Bei Tage verfolgte er mich förmlich, ließ mich strammstehen, bis ich ohnmächtig wurde, oder endlos durch den Schlamm robben. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Jede Nacht betete ich zu Gott, er möge ihn mir aus dem Weg räumen und dafür sorgen, dass er so weit wie möglich versetzt werden würde. Und eines Abends kam Sergent Ferrah tatsächlich stocktrunken zurück, torkelte herum und veranstaltete einen Riesenradau. Man sperrte ihn sofort in den Arrest. Am nächsten Morgen wurde er aus dem Dienst entfernt, und für sämtliche Kadetten war es, als ginge die Sonne auf … Zwanzig Jahre später kam in einem Café in Maghnia ein sehr ramponiert wirkender Mann auf mich zu:
»Erinnern Sie sich noch an mich, Herr Leutnant?«
Ich setzte meine Tasse ab, musterte ihn kurz, nur ganz kurz: »Und ob, Monsieur Ferrah.«
Er nickte, mit gesenktem Blick. Ich habe ihm einen Kaffee und eine Limonade spendiert und dann sofort das Café verlassen. Er hat nie wieder versucht, mich anzusprechen.
Jeden Sonntag wurden die Kadetten, sofern sie nicht zu den Kriegswaisen zählten, die ihren Glauben an die Märchenfee längst verloren hatten, von fieberhafter Erregung gepackt. In kleinen oder größeren Gruppen schwärmten sie in den Hof aus, mit klopfendem Herzen, den Blick erwartungsvoll auf den Verwaltungstrakt geheftet, den ein krächzender Lautsprecher überragte. Es war der Tag der Elternbesuche; der längste Tag von allen, der qualvollste Tag … Ab neun Uhr früh spuckte das Mikro die Namen der ersten Auserwählten aus und verscheuchte die Tauben von den Dächern ringsum. Wer sich im Geknister des Lautsprechers wiedererkannte, stürzte los zum Besucherzimmer, die Pupillen in panischer Vorfreude geweitet. Manchmal versuchte der Arm eines Freundes, ihn zum Spaß kurz zurückzuhalten. Die Reaktion fiel jedes Mal so heftig aus, dass jeder Anker gerissen wäre … Keine Kraft der Welt ist im Stande, ein Kind aufzuhalten, welches losläuft, um seine Familie wiederzusehen. Vor allem, wenn es schon vorher weiß, dass das Wiedersehen kaum länger als eine Umarmung dauert.
Bei jedem Namen, der erscholl, sprang mein Cousin bis unter die Decke, in der Gewissheit, diesmal sei es aber unser Name. Bedauernd verzog ich das Gesicht. Er kam wieder auf den Boden, untröstlich:
»Kommen die denn nie?«
Geschlagene zwei Monate sehnten wir uns nun schon nach dem Anblick einer geliebten Person, und unsere Leute ließen sich einfach nicht blicken. Mein Cousin wollte es sich nicht eingestehen. Und ich wusste nicht, was ich ihm hätte sagen sollen. Ich litt ebenso wie er, aber ich war der Ältere; ich war es mir schuldig, Haltung zu bewahren, ihm zu beweisen, dass wenigstens ich für ihn da war …
Am Ende der Besuchszeit, wenn sich das große Tor über unseren allerletzten Wünschen und Stoßseufzern schloss, kehrten die Auserwählten deprimiert zu uns zurück, betrübter denn je. Der festlich gedeckte Mittagstisch im Speisesaal vermochte den Grad ihrer Niedergeschlagenheit in keiner Weise zu mindern. Nur, wer ohnehin keine Familie hatte, ließ sich das Essen so richtig munden – ein kurzer Ausgleich für den Dauerstatus als Anonymus. Die anderen, die Glückspilze vom Vormittag und die weniger Glückhaften, wagten sich weder an die Obstkuchen noch an die Limonaden heran. Ihre Kehle war so zugeschnürt, dass sie schon an einem einzigen Löffel Suppe erstickt wären. Der nächste und noch die nachfolgenden Tage waren bestimmt von unterdrückten Wutanfällen.
Am Vorabend des kommenden Sonntags aber war alles wie ausgelöscht und ging von vorne los: Hastig wurde das Frühstück verdrückt, dann schwärmte man stumm hinaus auf den Hof. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!
Mit der Zeit indes strebten die Auserwählten dem Besucherraum mit immer weniger Enthusiasmus entgegen. Diese Glücksmomente, die schneller als die buttrigste Brioche zergingen, elektrisierten sie nicht mehr. Ein Verwandter, der kommt und geht, richtet mehr Unheil an als einer, der in Vergessenheit gerät. Doch für alle, die, genau wie Kader und ich, kläglich darauf warteten, endlich auch einmal in den Besucherraum gerufen zu werden, war das jede Mühe der Welt wert – und müssten sie auch für den Rest ihres Lebens darunter leiden.
Ich zählte mit meinem Cousin die Tage und Nächte an den Fingern ab, die uns noch vom Sonntag, dem 4., Sonntag, dem 11., Sonntag, dem 18., und so weiter trennten. Und je verstockter der Lautsprecher unseren Namen mied, umso beharrlicher zählten und zählten wir, anfangs mit frenetischer Besessenheit, dann mit einem ätzenden, immer größer werdenden Triumphgefühl – dem schmerzlichen Triumph zweier Knirpse, die glaubten, selber schuld daran zu sein, dass ihre Familien sich nicht für sie interessierten und die sich deshalb keine Schonung gönnten.
Und eines Nachmittags, just in dem Moment, als ich am allerwenigsten damit gerechnet hätte, passte Sergent Kerzaz mich bei Unterrichtsende ab, um mir mit monotoner Stimme mitzuteilen, dass mein Vater da sei.
»Aha«, erwiderte ich ohne rechte Begeisterung.
Es ging mir nicht gut. In meinen Kautschuksandalen fror ich mir beinahe die Füße ab. Es war Ende November, und die Kälte brutal. Die von Bulgarien zugesagte Kleiderlieferung verspätete sich, und unsere Sommerbekleidung schützte uns nicht. Der Schule, die sich noch im Aufbau befand, fehlte es an finanziellen Mitteln und an Material. Die Klassenzimmer und die unbeheizten Schlafsäle erinnerten an Kühlräume. Einige wenige, nämlich die am längsten aufgeschossenen Kadetten, gruben in düsteren Kleiderkammern alte Kriegsgefangenenmäntel aus, die muffig rochen und grotesk aussahen, und auf deren Rücken dicke weiße Nummern klebten. Der Rest begnügte sich mit Erwachsenenpullis und klapperte vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang mit den Zähnen.
Mein Cousin Kader hatte sich eine üble Bronchitis eingefangen. Man verweigerte mir die Erlaubnis, ihn im Krankentrakt zu besuchen. Ich selber hustete mir auch schon fast die Kehle aus dem Hals. Und ich war nicht der Einzige. Ich hatte rissige, schwärzlich verfärbte Hände, und meine Finger waren kältesteif bis unter die Achseln. Der Besuch meines Vaters kam extrem ungünstig. Es störte mich, ihm, der so sehr alles Heile und Gesunde liebte, einen solch kläglichen Anblick zu bieten.
Der Sergent forderte mich auf, mich zu schneuzen und die eines Soldaten unwürdige Jammermiene abzulegen. Er hob mein Kinn an, zupfte meinen Kragen zurecht und zeigte mir den Weg.
Mein Vater plauderte mit Leutnant Midas im Hof. Beide beobachteten sie mich, während ich versuchte, meinen von den Eisklumpen, die mir als Füße dienten, behinderten Gang zu korrigieren.
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