»Ich hatte sie eigentlich im Lauf des Vormittags erwartet, aber was soll’s. Du kannst ihnen ja schon mal ihre Betten zeigen, da können sie sich ein wenig ausruhen. Um diese Zeit ist der Frisör ohnehin nicht mehr frei. Sie bleiben am besten bei den neu eingetroffenen Rekruten. Morgen wird ihnen dann der Kopf geschoren, danach kommen sie unter die Dusche. Die neue Kleidung ist noch nicht geliefert. Sie müssen bis auf weiteres ihre Privatsachen anbehalten.«
»Zu Befehl.«
Der ältliche Hauptfeldwebel lächelte kurz in unsere Richtung, mehr aber auch nicht. Er war klein und lebhaft und hatte ein schwärzliches, ausgemergeltes Gesicht, das vom Leben als Partisan ganz verschrumpelt war. Obwohl er in seiner Uniformjacke nur so hing, konnte man spüren, dass er unerbittlich war und von einer unbezwinglichen Energie. Bevor er zu seinen Trupps zurückkehrte, nahm er noch sein Gebiss heraus und verstaute es wieder in der Tasche. Sein Mund fiel derart trostlos in sich zusammen, dass mich eine Gänsehaut überlief.
Der Sergent brachte uns in das Gebäude, das den Schulhof überragte, einen schäbigen, gestreckten Bau, an die hundert Meter lang, von dem der Putz bröckelte. Man betrat ihn durch eine brüchige Tür, hinter der sich ein dunkler, endloser Flur auftat, in dem es nach Pisse stank. Im Erdgeschoss befanden sich Klassenräume mit Reihen von Tischen und Bänken. Von den Wänden, die in bedrückendem Grau gehalten waren, hingen müde Stiche mit Fabelszenen nach La Fontaine. Und von der Tafel über dem Podest baumelte die Eselskappe, die für den größten Faulpelz der Stunde bestimmt war … Der Sergent ging weiter, stieg hoch in den ersten Stock, prüfte im Vorbeigehen die Tiefe der Risse im Geländer und warnte uns vor altersschwachen Treppenstufen. Kaum waren wir in einem großen Raum angelangt, in den durch ein primitives Fenster Licht einfiel, deutete er auf zwei freie Matratzen und fing sofort an, uns vorzuführen, wie man Betten so »baut«, wie es weltweit Brauch in jeder Kaserne ist. Mit unendlicher Sorgfalt breitete er die erste Decke über der Matratze aus, dann die beiden Laken, die er mit äußerster Behutsamkeit glättete, und als letzte Schicht eine zweite Decke, deren Enden er unter die Matratze stopfte, dann rückte er noch das Kopfkissen zurecht, klopfte mit geschickten Händen die Ränder des Schlaflagers glatt und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. »Wie eine Munitionskiste muss euer Bett aussehen«, bläute er uns ein, »die Ecken ganz exakt und die Oberfläche platt wie ein Brett, das obere Laken muss so und nicht anders umgeschlagen sein. Ich warne euch, wenn euer Ausbilder auch nur die kleinste Falte entdeckt, wird er alles zu Boden zerren und euch den Hintern versohlen, bis ihr es schafft, ihm ein bügelglattes Bett zu präsentieren.« Mein Cousin nickte artig, meilenweit davon entfernt, die Strenge des Protokolls mit allen Konsequenzen zu erfassen. Ich aber wollte nur noch nach Hause zurück.
Der Sergent setzte den Erkundungsgang durch »unser« künftiges Terrain fort, deutete auf den Gemeinschaftsraum hin, ohne uns näher zu erklären, was es damit auf sich hatte, da es momentan geschlossen war, und zeigte uns, bis wohin genau unser Sektor reichte, außerhalb dessen wir Gefahr liefen, uns ins Quartier der Soldaten zu verirren, was völlig inakzeptabel sei. Er klärte uns darüber auf, wie wir uns zu verhalten hätten, falls wir plötzlich allein da stünden, an wen wir uns wenden sollten, wenn etwas nicht ganz so lief, und woran man einen Ausbilder erkannte, damit wir uns nicht dem Erstbesten, der uns über den Weg lief, anvertrauten. Am späten Nachmittag brachte er uns in einen kleinen Hof, wo wir einen Haufen gelangweilter kleiner Jungs in Zivil vorfanden: die neuen, kurz zuvor eingetroffenen Rekruten. Die meisten waren Kriegswaisen, manchmal ganz ohne Angehörige und ohne Familiennamen. Man hatte sie auf der Landstraße aufgegriffen oder aus ihren Nachbarsfamilien herausgeholt, die zu arm waren, um sie mit durchschleppen zu können. Manche waren völlig zerlumpt, mit Druckgeschwüren und Schrunden an den Füßen. Andere hatten struppiges Haar, Triefaugen und wimmelnden Rotz an den Nasenlöchern. Doch bei allen lag eine schmerzliche Verstörtheit im Blick, als rechneten sie damit, gleich den Himmel über sich einstürzen zu sehen. Einer von ihnen, den unsere Kleidung schwer zu beschäftigen schien, kam auf uns zu, um uns aus der Nähe zu betrachten. Mit seiner rissigen, geschwollenen Hand strich er sanft über meine Jacke, betrachtete prüfend ihren Zuschnitt; dann trat er einen Schritt zurück und erklärte staunend, er hätte gedacht, Anzüge würden immer nur von erwachsenen Männern getragen, und überhaupt hätte er, außer dem französischen Dorfverwalter während des Kriegs, ja noch nie jemanden gesehen, der so gekleidet gewesen wäre, einen Araber sowieso noch nicht, geschweige denn ein arabisches Kind. Ein Jugendlicher entgegnete ihm, dass wir vermutlich Bürgersöhnchen seien. Ohne den Blick von uns zu lösen, kehrte der andere an seinen Platz zurück, außer Stande, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Kinder reicher Leute so tief fallen konnten. Sergent Kerzaz verabschiedete sich von uns, versprach aber, am nächsten Tag wiederzukommen. Verdutzt sahen wir ihm nach, wie er sich entfernte. Kaum war er hinter der Mauer verschwunden, ließ mein Cousin sich zu Boden fallen und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Dann begann er, fürchterlich zu schluchzen und nach seiner Mama zu rufen. Ich brachte es nicht fertig, mich zu ihm zu setzen oder mit ihm zu reden. Mir war selber so schwer ums Herz. Um ihn konnte ich mich nicht auch noch kümmern …
Von fern ertönte ein Pfiff. Kurz darauf erschien ein Junge in Uniform und kündigte an, dass es Zeit zum Abendessen sei. Die neuen Rekruten setzten sich in Trab.
»Geh doch mit«, riet ich Kader.
»Und du?«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Soll ich dir ein Stück Brot mitbringen?«
»Nicht nötig.«
Kader fragte nicht länger und lief schnell hinter den anderen her.
Ich blieb allein zurück. Die Sonne ging bereits unter, so verstohlen, als sei sie nun ihrerseits darauf aus, mich im Stich zu lassen. Ich setzte mich auf einen Steinquader, mit dem Rücken zur Esplanade und dem Geklapper der Gabeln, das alsbald vom Speisesaal erscholl. Meine Schultern sackten zusammen, lasteten bleischwer auf meinem ganzen Sein. Es fühlte sich an, als würde meine Seele erstarren. Langsam, um Hunger und Schwindel, die übermächtig wurden, zu dämpfen, drückte ich meine beiden Fäuste in die Magenhöhle und blickte der Nacht ins Auge …
Ein Jahr zuvor hatte mein Vater uns eine Kur in Bouhanifia spendiert, einem Badeort, nur wenige Kilometer von Mascara entfernt. Morgens bin ich immer an den Fluss hinunter, um den Urlaubern beim Schwimmen zuzusehen. Wie junge Götter bauten sie sich oben auf dem Felsen auf, stießen wilde Schlachtrufe aus und sprangen in die Tiefe. Ich war fasziniert von den fantastischen Sprüngen der waghalsigen Taucher. Und eines Abends, als ich am menschenleeren Gestade so vor mich hin träumte, näherte sich mir ein Mann. So um die dreißig mochte er sein und machte einen freundlichen, wohlwollenden Eindruck. Er deutete auf einen Baum, der weit über den Fluss ragte, und forderte mich auf, ihm zu zeigen, ob ich Mumm in den Knochen hätte. Ich könne doch gar nicht schwimmen, hatte ich erwidert, aber er versprach mir, er würde schon aufpassen, dass mir nichts passierte. Weil er nicht locker ließ, bin ich zuletzt auf den Ast geklettert. Das träge Gegurgel der schlammigen Fluten drei Meter tief unter mir machte mir schreckliche Angst, doch das herzliche Lächeln des Fremden war am Ende stärker. Ich schloss die Augen und sprang. Als ich nach einigem verzweifelten Herumgeplansche noch immer keinen sah, der mir zu Hilfe kam, geriet ich in Panik. Der Mann aber blieb ungerührt auf der Böschung sitzen, die Arme lässig um die Knie geschlungen; er lächelte und sah gelassen zu, wie ich am Ertrinken war. Nie werde ich sein fröhliches Gesicht vergessen, den amüsierten Ausdruck in seinen Augen angesichts meiner Not. Je verängstigter meine Schreie wurden, desto deutlicher prägte sich sein Lächeln aus. Ich hatte begriffen, dass er mir nicht helfen würde. Schon schloss sich das Wasser um mich zusammen, riss ein schwindelerregender Strudel mich fort. In dem Moment, in dem klar war, dass ich untergehen würde, stand der Mann auf und ging den Hügel hinauf, als wäre nichts passiert. Meinem Cousin Homaïna, der rein zufällig des Weges kam und meine Schreie gehört hatte, blieb gerade noch Zeit, nach meiner Hand zu greifen.
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