Stefan Pilger fand, über jedem Satz, der aus dem breiten Mund des dürren Mannes kam, lag der trübe häßliche Nebel von Spott. Aber Ende gut, alles gut, der Mensch sollte seine Wohnlaube nicht als sein Feind verlassen.
So sagte er denn freundlich: „Vielleicht waren Sie Bäckermeister oder einer der schwarzen Herren, die mit dem Zylinderhut auf dem Kopf, am Alltag arbeiten gehen und für die Sauberkeit unserer Schornsteine sorgen, vielleicht waren Sie Kapitän und sind weit über die Meere gefahren, oder Sie haben in Alaska oder sonstwo Gold gegraben.“ Er erklärte und sah den Alten nachdenklich an: „Ich kann Sie mir sogar sehr gut als Kapitän vorstellen, aber auch als Pelzjäger im Hundeschlitten in den Schneeländern auf der anderen Seite des Globus, ich kann Sie mir jedoch nur schwer als Bäcker- oder Schornsteinfegermeister vorstellen.“
Der Besucher schüttelte in seiner spöttischen Art abwehrend den Kopf.
„Von Menschenkenntnis haben Sie keine Spur, also strengen Sie sich nicht weiter an, und raten können Sie auch nicht. Also lassen Sie es nur sein.“ Er erhob sich. „Wissen Sie, ich habe keinen richtigen Grund, mich meines einstigen Berufes zu schämen, aber es liegt mir wenig daran, daß man sich vielleicht in acht Tagen in allen Gärten hier und in der Nähe erzählt, der alte Hartschmidt, der Kerl mit der verdammt unangenehmen Visage und dem Spottmaul war früher mal —“
Sein Lachen, das fernem heiserem Bellen glich, endete den Satz und Stefan Pilger wartete, er solle noch etwas hinzufügen, doch Hartschmidt schwieg.
Stefan Pilger hatte sich auch erhoben.
„Ich bin nicht neugierig, Herr Hartschmidt, und ich bitte um Entschuldigung wegen meiner Frage. Sie sollen mir nichts anvertrauen, was Sie mir nicht anvertrauen mögen. Schließlich geht es mich wirklich nichts an, was Sie gewesen sind. Aber ich habe kein rechtes Verständnis für Ihre Auffassung. Ich war ein kleiner Buchhalter und hoffe, in Kürze Prokurist unserer Firma zu werden, das kann jeder wissen. Aber nichts für ungut, Herr Hartschmidt.“
Er war überzeugt, jetzt würde sich der alte Mann entfernen, doch der schien gar nicht daran zu denken. Regungslos stand er da, und sein Blick glitt von schräg unten heraus, tastete das Gesicht Stefan Pilgers förmlich ab, erklärte nach langem Schweigen: „Sie haben ein anständiges Gesicht, und ich glaube mich darauf verlassen zu dürfen, Sie werden, wenn ich rede, nicht mit Ihrem Wissen in die Wohnlauben hausieren gehen. Deshalb sollen Sie hören, was und wer ich gewesen bin. Kein hohes Tier, aber ein beliebter Clown war ich und habe mein Geld verdient in aller Herren Länder. In jedem bedeutenden Zirkus, in jedem großen Spezialitätentheater aller Weltteile habe ich gearbeitet und das Publikum zum Lachen gezwungen. Die höchsten Gagen, die je Direktionen für einen Clown gezahlt, erhielt ich. Ich konnte das Geld im wahren Sinne des Wortes scheffeln.“ Er reckte sich ein wenig auf. „Jetzt wissen Sie, was ich von Beruf gewesen bin, Herr Pilger, und es wäre mir, wie ich nochmals betonen möchte, sehr lieb, wenn Sie es für sich behalten würden.“
Stefan Pilger gab zurück: „Darauf dürfen Sie sich verlassen.“ Er gestand: „Aber von selbst wäre ich niemals auf Ihren Beruf gekommen, und doch meine ich jetzt, nachdem Sie ihn mir genannt, ich hätte es eigentlich sofort erraten müssen.“ Er fügte hinzu: „Ich habe gerade letzthin in einer Berliner Zeitung einen Aufsatz über berühmte Clowns der Gegenwart und der Vergangenheit gelesen, und der Aufsatz schien, soweit ich da zu beurteilen vermag, von gut unterrichteter Seite zu stammen. Doch Ihr Name, verzeihen Sie, Ihr Name befand sich nicht unter den angeführten Namen, denn er wäre mir, weil er nicht häufig vorkommt, sofort aufgefallen.“
Der kleine Mann nickte. „Natürlich, mein Name war nicht dabei, aber vielleicht fanden Sie den Namen „Müllerchen?“ Müller hieß meine Mutter, und ich machte als junger Kerl „Müllerchen“ daraus und zog damit los. Der Name brachte mir Glück, ich wurde berühmt.“
Wie einfach er das sagte und doch mit einem gewissen Stolz. Zum erstenmal war ihm Hartschmidt sympathisch, stellte Stefan Pilger fest.
In seinem Blick lag Hochachtung.
„Ja“, gab er zu, „von dem Clown ,Müllerchenʻ war in dem Artikel ganz besonders die Rede, er wurde als der größte deutsche Clown hervorgehoben, es hieß dann aber von ihm, es wäre nicht herauszubringen, ob er noch lebe und wo. Aber —“
Er verstummte plötzlich.
Hartschmidt hob die Hand wie zur Abwehr.
„Sie sprachen nicht weiter, Herr Pilger, weil Ihnen noch rechtzeitig einfiel, es wäre taktlos, mir anzudeuten, was Sie sonst noch über ,Müllerchenʻ gelesen haben. Bemühen Sie sich nicht, in diesem Fall erlasse ich Ihnen das höfliche Leugnen. Der Schreiber des betreffenden Artikels hat sicher darauf hingewiesen, daß ,Müllerchenʻ eine große Dummheit beging, weil er die Geschichte, daß ein Lump mit seiner leichtsinnigen, schönen, und von ihm abgöttisch geliebten Frau durchging, nicht so auffaßte, wie es eigentlich sein Beruf von ihm gefordert hätte. Also nicht von der komischen Seite, sondern von der allerernstesten. Er versetzte nämlich dem Subjekt ein paar kräftige Messerstiche und tauschte dafür fünf Jahre Zuchthaus ein.“
Er seufzte. „Das werden Sie gelesen haben, Herr Pilger, und jetzt wissen Sie Bescheid, wer der alte Hartschmidt einmal gewesen ist vor langen Jahren, vor Ewigkeiten, wie es mir manchmal scheinen will, und Sie haben zugleich gelernt, daß auch ein Spaßmacher des Publikums ein Privatleben und eine Privatehre hat, wenn er auch abends im Zirkus Tölpeleien begehen und sich von irgendeinem Partner Ohrfeigen geben lassen muß.“
Stefan Pilgers Sympathie für den Mann mit dem gelben Bulldoggengesicht wuchs, und er reichte ihm die Hand, drückte sie fest.
„Lassen Sie sich doch öfters einmal hier bei mir sehen, Herr Hartschmidt. Das, was Sie getan haben, ist natürlich zu verurteilen, es wäre besser gewesen, Sie hätten den Lumpenkerl ordentlich verprügelt oder verprügeln lassen, aber verstehen kann ich Sie.“
Sie trennten sich wie Freunde, und verwundert sah ein Nachbar mit an, daß sich beide an der Gartentür mit langem Händedruck verabschiedeten.
Stefan Pilger entschied sich, selbst seiner Schwester, vor der er kein Geheimnis hatte, nicht von dem zu erzählen, was er über die Person Hartschmidts erfahren. Vielleicht sähe sie alles mit anderen Augen an als er.
Er berichtete ihr jedoch, daß Hartschmidt die Brosche Christa Dörfels vor seinem Garten gefunden und ihm ausgehändigt. Er zeigte sie ihr. Sie fand sie auffallend.
Stefan Pilger entschied sich, falls Christa sich auch morgen, Sonnabend, nachmittags nicht in seinem Garten sehen lassen würde, sie am Sonntag vormittag in der Mainzer Landstraße aufzusuchen, um ihr die Brosche zu bringen und sie selbst bei der Gelegenheit zu befragen, was ihr merkwürdiges Verhalten zu bedeuten hätte. Heimliche Angst quälte im sehr.
Seine Schwester stimmte ihm zu, den Sonntagsbesuch zu machen.
Christa Dörfel ließ sich auch am Sonnabend nicht im Garten sehen.
Sonntagsfrieden lag über der alten Stadt am Main. Wie wundervoll still sind die Großstädte an Sonntagen, man erkennt sie kaum wieder. Alles darin geht gemächlich seines Weges, man glaubt sich in verträumten Provinzstädtchen zu befinden, man hat viel Zeit, hat den Peitschenknall: Tempo, Tempo! vergessen, und die Gesichter blicken froh entspannt.
Die Glocken riefen zur Kirche und kleine Kinder faßten die Hand des Vaters fester, der mit ihnen spazieren ging, während Mutti daheim das Sonntagsmahl bereitete.
Stefan Pilger hatte eben mit seiner Schwester gefrühstückt und kleidete sich nun besonders sorgfältig zum Ausgang an. Als er sich im Spiegel seiner Schlafstube betrachtete, war er mit sich zufrieden und auch seine Schwester bestätigte ihm: „Du siehst tadellos aus, lieber Junge, ich will dich durchaus nicht eitel machen, aber Christa Dörfel hat wirklich Glück, so einen wie dich gefunden zu haben!“ Sie setzte in ernsterem Ton hinzu: „Hoffentlich kann sie dir eine befriedigende Erklärung für all das geben, was uns äußerst befremdend vorkommen muß. Wenn sie das kann — und ich wünsche es dir — würde ich mich sehr freuen, auch offiziell ihre Bekanntschaft zu machen. Bis jetzt hat sie ja keine Ahnung, daß ich sie eigentlich schon kenne.“ Sie lächelte ein bißchen traurig. „Ich gebe dich, weiß der Himmel, nur schwer her, oller lieber Stefan, aber das Mädel gefällt mir auch und ich glaube, ihr paßt äußerlich ausgezeichnet zusammen, wie füreinander geschaffen.“
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