Stefan sah sie prüfend an. Wollte sich die nette Frau einen unverständlichen Scherz mit ihm erlauben?
Er antwortete mit mühsam beherrschter Erregung. „Meine Braut heißt Christa Dörfel, und Fräulein Dörfel kann heute noch nicht hier mit Ihnen gesprochen haben. Sie ist bisher noch nicht bei uns angekommen. Oder —“ Er zog das Wort „oder“ sehr lang, sie müßte wieder nach dieser Seite, von der sie zu kommen pflegt, umgekehrt sein.
Die Frau wehrte lebhaft ab.
„Bewahre, umgekehrt ist sie bestimmt nicht. Wir sprachen miteinander kurz nach dreiviertel vier. Ich weiß das so genau, weil ich um die genannte Zeit drinnen in der Laube auf meine Weckeruhr gesehen hatte. Fräulein Dörfel — so heißt die junge Dame ja wohl? — sprach also mit mir, nahm auch die Rosenknospe an und ich sah ihr nach, fand, sie sah sehr schön und sehr vornehm aus. Ich sah ihr nach bis ungefähr zum Hartschmidtschen Garten, und dann machte ich mich an die Arbeit, Unkraut auf der Straße vor unserem Gartenzaun auszujäten. Ich hätte die junge Dame sehen müssen, wenn sie umgekehrt wäre. Kurz bevor Sie kamen, habe ich den Garten erst wieder betreten.“
Stefan Pilger erklärte mit deutlicher Erregung: „Sie müssen sich dennoch irren, Frau Merten. Ich bin seit drei Uhr in unserem Garten und bin seitdem nicht ein einziges Mal in der Laube gewesen. Fräulein Dörfel konnte also nicht unbemerkt bei mir vorbeigehen. Sie hätte auch nicht den geringsten Anlaß dazu gehabt, das zu tun. Wir trennten uns gestern im allerbesten Einvernehmen.“
Frau Merten sah ihn ratlos an und zuckte die Achseln.
„Was soll ich darauf noch erwidern, Herr Pilger? Ich weiß es wirklich nicht, aber mir ist die Geschichte einfach unbegreiflich. Jedenfalls, und das kann ich beschwören, habe ich mit der jungen Dame kurz nach dreiviertel vier gesprochen, und danach ist sie auf dem Weg weitergegangen in der Richtung Ihres Grundstücks. Außerdem habe ich ihr nachgesehen, bis sie sich vor dem Hartschmidtschen Garten befand. Dabei bleibe ich und sie muß etwas später bei Ihnen vorübergegangen sein, ohne daß Sie es bemerkten.“
„Quatsch!“ entfuhr es Stefan Pilger grob.
Im nächsten Augenblick färbte sich sein Gesicht dunkelrot, und er bat verwirrt: „Verzeihen Sie, beste Frau Merten, ich bin ein bißchen aufgeregt, weil mir Ihre Erklärung so sonderbar erscheint. Ich glaube Ihnen ja, und es muß sich dann wohl so verhalten, daß Fräulein Dörfel irgendwo zwischen dem Hartschmidtschen Garten, wo sie von Ihnen zuletzt gesehen wurde und dem unseren, Rast gemacht und sich verplaudert hat. Vielleicht ist sie, derweil ich hier stehe, schon längst bei meiner Schwester gelandet.“
Diese Erklärung leuchtete ihm selber ein, obwohl es ihm nicht gefiel, daß Christa gerade heute so rücksichtslos gewesen sein sollte.
Er bat noch einmal um Entschuldigung und lief zurück.
Seltsamerweise fand er seine Schwester noch immer allein und erzählte ihr ziemlich verärgert, was er von Frau Merten soeben gehört hatte.
Er schloß: „Die Frau hat Gespenster am hellen Tag gesehen. Christa konnte natürlich aus irgend einem wichtigen Grunde heute nicht hierher kommen.“
Julie widersprach: „Ich glaube Frau Merten aufs Wort, die sieht bestimmt keine Gespenster am hellen Tag, die nicht, eher glaube ich beinahe, deine Herzenskönigin hat zwischen dem Hartschmidtschen Garten und unserem, Unterhaltung gefunden, die sie mehr fesselt, als die Aussicht, deine olle Schwester kennenzulernen. Ich schlage vor, wir gehen nach Hause, das Gewölk sieht schon eklig grau und böse aus, und es ist besser, vor dem Wetter zu Hause zu sein, denn ein Wetter gibt es bestimmt, um das kommen wir kaum noch herum.“
Stefan Pilger merkte seiner Schwester nur zu deutlich an, wie ärgerlich sie auf Christa war, und das verdroß ihn.
Er antwortete scharf: „Du verurteilst Christa, ehe du noch weißt, was sie von ihrem Besuch bei uns zurückgehalten hat. Ich bitte dich, Julie, wenigstens noch ein halbes Stündchen zu warten. Ich möchte schnell bei allen Nachbarn bis zu Hartschmidt Nachfrage halten.“
Ehe Julie sich entscheiden konnte, hatte er schon den Garten verlassen.
Sie rief ihm nach: „Bei Körner nebenan brauchst du nicht zu fragen, der ist erst vorhin gekommen, und erstens war der Garten bis dahin verschlossen, zweitens hätte ich sie dann von uns aus auch sehen müssen.“
So kam er bis zum Hartschmidtschen Grundstück. Das gelbe Bulldoggengesicht seines Besitzers zeigte sich hinter frischgrünen Büschen. Ein Altmännermund mit häßlichen stockfleckigen Zähnen fragte: „Herr Pilger, nicht wahr, der sind Sie doch? Ich weiß, Sie gärtnern hier als Erster von der Landstraße aus, alles in Grund und Boden. Womit kann ich Ihnen dienen?“
Stefan Pilger hätte am liebsten sofort kehrt gemacht. Man hatte ihm erzählt, daß Hartschmidt ein unangenehmer Geselle wäre, und er bezwang sich, erwiderte höflich: „Ja, mein Name ist Pilger, und es ist möglich, daß ich nicht soviel von der Gärtnerei verstehe wie Sie, aber ich bemühe mich, mein Bestes zu tun. Jetzt möchte ich Sie nur fragen: Haben Sie heute gegen dreiviertel vier Uhr nachmittags hier auf dem Weg vor Ihrem Garten eine junge schlanke Dame bemerkt? Sie hat —“
„Goldblondes Haar und ein reizvolles Gesicht“, vollendete der Unangenehme. „Ich kenne die Dame, sie ist mir schon mehrmals aufgefallen. Es ist dieselbe, die schon seit ungefähr einer Woche unsere Gegend unsicher macht, ich muß wohl richtiger sagen: verschönt!“
Stefan unterdrückte eine Zurechtweisung.
Der Alte hüstelte und es klang wie fernes, heiseres Bellen.
„Jawohl, Herr Pilger, die junge Dame habe ich heute kurz nach dreiviertel vier Uhr hier an meinem Garten vorbeigehen sehen. Sie trug ein hellgraues Kleid, Kostüm nennt man ja so ein Jackending, ich habe die Bezeichnung noch von meiner durchgebrannten Frau her im Gedächtnis behalten. Also die goldblonde Dame ging hier vorbei und glubschte so’n bißchen zu mir herüber mit den braunen Kulleraugen und dann —“
Er schwieg, nahm die Prise, und nieste nach einem Weilchen sehr umständlich.
„Und dann?“ fragte Stefan Pilger aufs Äußerste gespannt.
Das Hüsteln, das fernem heiserem Bellen glich, ließ sich wieder hören. Vielleicht sollte es auch ein Lachen sein.
Der Alte gab Antwort: „Und dann war die unwichtige Episode, daß ein feines Dämchen hier vorbei scharwenzelte, für mich erledigt. Ich gucke den jungen Frauensleuten nicht mehr nach, schon lange nicht mehr, denn, genau genommen, sind die Weiber das gar nicht wert.“ Er sagte ernst: „Meine Mutter ausgenommen, die war eine herzensgute und anständige Frau und die einzige, an die ich mit Achtung und Liebe denken kann.“ Er murrte: „Halten Sie mich, bitte, nicht länger mit Fragen auf, ich habe noch viel zu tun.“
Er wandte sich ab und ging dorthin, wo er sich vorhin mit dem Ausschaufeln einer Grube beschäftigt hatte.
Stefan rief ihm nach: „Ist die Dame nicht etwa umgekehrt?“
Hartschmidt schüttelte den Kopf und erklärte mit großer Bestimmtheit: „Nein! Ich sehe jeden der vorbeigeht, zurückgekommen aber ist sie bis jetzt nicht.“
Er kümmerte sich nicht mehr um Stefan Pilger, der noch ein paar Fragen bereit hielt, nun aber wie vor den Kopf geschlagen umkehrte. Alles, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht, bewies nur zu deutlich, daß Christa wie vordem täglich, so auch heute zur gleichen Zeit ihren Weg vom Turm jenseits der Gärten, nach diesseits der Gärten angetreten hatte, daß sie von Frau Merten und zuletzt vor dem Hartschmidtschen Garten von dessen Besitzer gesehen worden war, danach aber von niemand mehr.
Bei ihm war sie nicht angekommen, unterwegs war sie in keinem Garten gewesen! Also wo war sie geblieben?
Sowohl Frau Merten als auch der Mann mit dem gelben Bulldoggengesicht blieben dabei, sie wäre bestimmt nicht zurückgekehrt.
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