„Kennen Sie die verlassenen Gleise?“
Von allen Fragen oder Anmerkungen war dies die letzte, mit der Hartmann gerechnet hätte. Entgeistert starrte er sie an. „Natürlich, wer kennt sie nicht?“ Die verlassenen Gleise befanden sich ein wenig außerhalb der Stadt. Früher waren sie intensiv genutzt worden, doch jetzt lagen sie brach. Die Gründe dafür waren Hartmann unbekannt, und er hatte, wenn er ehrlich war, auch nie darüber nachgedacht. Während die alten Schienen in Vergessenheit gerieten, war das neue Bahnnetz ausgebaut worden. Ein großes Bahnhofsgebäude zierte die Stadtmitte, die Eisenbahn durchquerte auf dem Weg dorthin die halbe Stadt, hüllte Häuser in graue Wolken, kündigte jedes Kommen mit einem durchdringenden Stampfen an und weckte die in der Nähe wohnenden Menschen am frühen Morgen zuverlässiger, als es jeder Hahn hätte tun können.
Hartmann war seit der Schließung der Strecke nicht mehr bei den verlassenen Gleisen gewesen. Er ging davon aus, dass mit der Zeit das Gras so hoch geworden war, dass es die Gleise überwucherte, dass die Schienen begonnen hatten zu verrosten und das Holz der Bahnschwellen morsch wurde.
Was die Gleise mit ihm und diesem nächtlichen Überfall zu tun hatten, war ihm schleierhaft.
Seine desinteressierte Antwort schien die Frau jedenfalls in Rage zu bringen, sie schnaufte theatralisch und warf ihm einen Blick zu, der zwischen Verachtung und ... Hartmann stutzte. Las er in ihren Augen tatsächlich so etwas wie ... Verzweiflung? Wenn ja, musste er sich noch mehr in Acht nehmen. Zu oft hatte er erlebt, zu welchen Taten Menschen imstande waren, die zutiefst verzweifelt waren.
Ihre Kiefer mahlten. „Haben Sie keine Ahnung, was sich bei den Gleisen abspielt?“
„Reden Sie nicht so kryptisch!“, herrschte er sie an. Worauf zum Teufel wollte sie anspielen …? Die Rauschgiftabhängigen trafen sich an anderen Orten, für Prostitution war die Gegend zu abgelegen ...
Die Frau unterbrach seine Grübeleien. „Was bekommt die Polizei überhaupt mit?“, fauchte sie ihn an.
„Was Sie gerade veranstalten, hat nichts mit Polizeiarbeit zu tun, sondern ist ein schlecht gemachtes Ratespiel“, gab er zurück. „Sagen Sie mir endlich, worauf Sie anspielen und ich kann Ihnen sagen, was ich darüber weiß.“ Oder kann es bewusst verschweigen, fügte er gedanklich hinzu. „Wahlweise kann ich veranlassen, dass Sie sofort eingesperrt werden. Ohne weitere Diskussionen.“ Er legte jede ihm mögliche Autorität in seine Stimme und ließ wohlweislich die Frage offen, wie er dies so schnell bewerkstelligen mochte.
Die Frau wurde blass, schaute ihn aber mit versteinertem Gesicht an, so dass es ihm nicht möglich war zu sagen, ob er sie eingeschüchtert hatte oder sie lediglich wütend war. Er fürchtete jedoch, dass es letzteres war.
„Ich war so oft bei der Polizei“, fing sie an, und nun hörte Hartmann das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit in ihrer Stimme, die sich zu unkontrollierter Wut entwickeln konnte. „Keiner hat etwas gemacht! Sie haben mich nicht ernst genommen!“
Mit wem die Frau gesprochen hatte, vermochte Hartmann freilich nicht zu sagen, musste aber für sich zugeben, dass sie sicher nicht falsch lag. Zumindest waren keine Informationen weitergegeben worden, von denen er wusste, und keiner aus seinem Kollegium hatte sich mit den verlassenen Gleisen befasst.
„Ich höre Ihnen zu.“ Näher ging er auf die Vorwürfe nicht ein. Er musste sie in Sicherheit wiegen, Zeit gewinnen, und sich gleichzeitig so schnell wie möglich eine Strategie ausdenken, um sie zu überwältigen. „Was passiert bei den Gleisen?“
Einen Augenblick starrte sie ihn nur an, als könne sie es kaum glauben, Gehör zu bekommen. „Die Geisterzüge!“, stieß sie endlich hervor. „Die verlassenen Gleise werden von Geisterzügen befahren!“
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