„Im Frühjahr rutsche ich ’rüber nach New York!“ sagte er, und der Generaldirektor Fahrenholtz fügte hinzu: „Vielleicht treffen wir uns! Ich muss auch im Mai nach den States. Ich gehe dann ’runter nach Argentinien!“
„Na ... ich will über China nach Hause!“
„Überhaupt der ostasiatische Markt! ... Vierhundert Millionen kaufkräftige Köpfe ... Was ist da noch alles zu holen!“
Kaufkraft ... Geld ... Geld ... Einfuhr ... Ausfuhr ... Zölle ... Wieder Geld ... Es drehte sich wie ein Rad. Es kam immer dasselbe wieder: Das grobe Geldverdienen. Der blonde, wohlgenährte junge Offizier sass unbehaglich da. Er war doch hier im Hause aufgewachsen. Aber jetzt war ihm das wie Klänge einer anderen Welt. Der Vater nickte ihm frohlaunig zu:
„Was ist mich das mit Dir, mein Sohn?
Du isst mich nicht! Du trinkst mich nicht ...“
Und die Mutter meinte sanft: „Ach ... eure ewigen Kurse und Kuxe! Lasst doch Ottochen erzählen! Hast du denn auch netten Familienanschluss in der Garnison, Kind?“
„Na ... in der Stadt selbst ... da sind ja nur Spiesser, Mama ... ausser uns und natürlich dem Landrat ... Aber famoser Landverkehr auf den Gütern! ... Grossartige Leute! ... Der alte Graf Issern — wenn der sich auf seinem Schloss mopst, kommt er in die Stadt kutschiert und knallt mit der Peitsche durchs Fenster ins Kasino und schreit: ‚Zum Kuckuck! Wo stecken denn die Herren?‘ Herren ... damit meint er alle vom Oberst bis zum Junker! ... Er lädt immer nur im Ramsch ein! Herrgott, wird da getrunken ...“
„Das kann ich mir denken, mein Sohn!“
„Ja und er ist über sechzig und reitet noch alle unsere Jagden mit! ... Überhaupt ... unsere Jagden sind famos! Wir haben zwölf Koppeln Hunde. Neulich ritten wir doch fast zwei Stunden flotten Galopp hinter dem Keiler!“
Das war den andern nun wieder spanische Dörfer. Wie aus dem achtzehnten Jahrhundert. Feudalzeit. Als der Geheimrat Lauckardt zwei Tage darauf gegen Abend mit seiner Frau allein war, sagte er ernster als sonst, wo er gerne mit seinem frischen rheinischen Wesen manches zudeckte, was in ihm vorging: „Du — Mamachen ... ob wir da nicht doch einen Schwabenstreich gemacht haben ... dass der Otto zum Militär ist?“
„Er hat sich’s doch so sehnlich gewünscht ...“
„Ja, das schon ...“
„Und er sieht doch wunderhübsch aus!“
„Zu dick, Mamachen! ... Zu dick!“
„Ach, das gibt sich! Er ist ja nicht Husar! Die müssen mager sein!“
„Gott sei Dank nicht Husar!“ lachte der Vater. „Wenn ich denke, was der Junge in den prallen Hosen für ’ne Kehrseite hätte — da käme ja die Polizei ...“
„Aber Mann ...“
Der Grossindustrielle brannte sich eine Zigarre an.
„Geschehen ist geschehen!“ sagte er. „Man muss eben dem Vaterland ein Opfer bringen und seinen einen Sohn hergeben!“
„Es ist doch nicht Krieg!“
„Nee ... im tiefsten Frieden! Siehst du, Mamachen ... drei Dinge gibt’s bei uns: die sind stark! Die stempeln jeden ab. Das ist Rom und das ist unsere Armee und das sind da unten meine Herren Arbeiter!“ Er wies hinüber nach den mächtigen, dämmernden Umrissen der Fabrikgebäude und Schlote und fügte lebhaft, mit seiner alten Heiterkeit hinzu: „Hilft nischt, Mamachen: den Otto haben sie uns nach Noten eingebuttet, drüben über der Elbe! Der Bengel hat ja schon förmlich was Wehmütiges im Blick, wenn er uns ansieht. Mitleid. Unerfüllte Sehnsucht nach Schlössern und Grafenkronen! ’s ist nämlich gar nicht das bunte Tuch, was ihm so in die Augen sticht, sondern die feinen Leute, die’s tragen ... Das ist das Tolle!“
„Ach ... hoffentlich findet er sich wieder zurück!“
„Ich möcht’ es ihm gar nicht wünschen!“ sagte der welterfahrene Mann. „Im Gegenteil: hoffentlich hat er wenigstens das Zeug dazu und wird ganz wie seine neuen Freunde! ... Nichts ist schrecklicher, als wenn ’nem Menschen unterwegs die Puste ausgeht und er bleibt stehen und kann nicht vorwärts und nicht rückwärts! ... Na ... da bist du ja, mein Sohn Otto! Schon gestiefelt und gespornt?“
„Ja ... In ’ner halben Stunde geht der Zug, Papa!“
Der Geheime Kommerzienrat umarmte seinen Sohn.
„Also lass dir’s gut gehn! ... Wenn du Geld brauchst, schreib! Wenn du keins brauchst, lass trotzdem mal was von dir hören! ... Mama ist darin komisch. Die wundert sich, wenn ein Vierteljahr kein Brief kommt! Ich würde dich gerne auf die Bahn begleiten! Aber da drinnen wartet schon eine Abordnung von Arbeitnehmern! Es geht wieder los mit dem Streik. Ich fürchte, im Frühjahr kriegen wir eine Riesenschweinerei am ganzen Rhein.“
Er trat in das Nebenzimmer. Von drinnen klang seine Sprache plötzlich verändert, hart und herrisch: „’n Abend, meine Herren!“
„Guten Abend, Herr Geheimrat!“
Der dreifache Gruss der Arbeitervertreter war höflich und ruhig wie der seine. Aber es sprühte doch wie Feuerfunken aus diesen kurzen Lauten. Stahl und Stein, Besitz und Arbeit, krachten wieder einmal aneinander.
Der Leutnant Lauckardt hatte sich von seiner Mutter verabschiedet und fuhr in der väterlichen Equipage an der Fabrik vorbei. Die Strasse war im Abendgrauen noch voll von stehenden, sprechenden, gestikulierenden Gruppen. Unruhe und Streiklust in der Luft. Ein Summen. Ein Hin und Her, wie vor dem Bienenstock, wenn die Völker schwärmen. „Hoho!“ rief warnend der Kutscher und zügelte die Pferde zum Schritt, um durchzukommen. Die Arbeiter schauten finster auf. Aber sie wichen zur Seite. Der junge Leutnant im Wagen blickte über ihre Köpfe hinweg, mit jenem gleichmütigen und selbstbewussten Gesichtsausdruck, den er bei seinen Freunden und Kameraden, den Söhnen der Grossgrundbesitzer im Osten, gesehen, wenn sie weithin über die Felder und Fluren des väterlichen Dominiums fuhren. Nur dass dort, nach altem Brauch und Gewohnheit der Jahrhunderte, jeder am Wege grüsste. Hier hob sich keine Hand an die Mütze.
Das war es eben: Papa war gewiss klug und stark und reich. Aber er musste doch mit diesen dunklen Männern hier verhandeln, von Macht zu Macht. Sonst standen seine Schwungräder still oder die Treibriemen liefen leer. Drüben im Osten befahl man. Auf den Gütern. In der Kaserne. War Herr.
Die Gäule zogen an. Es ging im Trab vorwärts. Otto Lauckardt drückte sich verwöhnt lächelnd in die Wagenecke. Die Räder rollten. Der Zug stand bereit und brachte ihn zurück in die Garnison. Dort nahm die Zeit ihn auf und trug ihn, und ebenso in Berlin Achim von Bornim und all die anderen jungen Seelen, durch die Jahre dahin.
Dicker, bläulicher Zigarrenrauch in der schmalen Wandelhalle des alten Reichstags, dumpf von aussen das Menschenbrausen und Pferdebahngeklingel der Leipziger Strasse. Lautloses Hin und Her der Diener mit ihren Briefen und Aktenstücken, Auf- und Niedergewandel bebrillter ironischer alter Reichsboten in murmelndem Kuhhandel und Sammeln von Unterschriften für einen Antrag, Geflüster wie von zwei Verschwörern in der Ecke, eine gelassene Gruppe in den breiten Lederstühlen am Eingang ...
Die Türe zum Saal öffnete sich. Man hörte einen Augenblick eine Stimme, die gleich wieder erstarb.
„Wer spricht denn?“
„Immer noch Virchow, Exzellenz!“
„Pah!“ sagte der alte Herr von Bornim und rauchte. Er war gealtert in diesen letzten drei, vier Jahren. Immer noch leuchteten seine blauen Blücheraugen kriegerisch in die Welt. Aber das Gesicht war kleiner geworden und, in all seiner gefurchten Strenge, verfallen. Diese schwere Erkältung bei der siegreichen Septennatswahl, gerade jetzt vor einem Jahr ... wozu waren eigentlich die Esel von Ärzten auf der Welt, wenn sie einen alten Mann wie ihn seitdem nicht mehr wieder recht auf die Beine brachten?
Um ihn herum Parteigenossen. Herren von altem Schrot und Korn. Stützen des Throns. Der Abgeordnete Dr. von Pfeiffendorf-Pfiffel, der erst diesen Morgen von seinen schlesischen Gütern in die Stadt gekommen war, beugte den wettergebräunten Kahlschädel vor und erkundigte sich besorgt und halblaut: „Wie ist das mit dem Befinden von Majestät?“
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